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BFH: Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen im Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen aus einer in den Niederlanden ausgeübten freiberuflichen Tätigkeit

1. Die Sonderregelung zur Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen in § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. a des Einkommensteuergesetzes gilt aufgrund der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 des Vertrags über die Ar­beitsweise der Europäischen Union) auch für Vorsorgeaufwendungen, die in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit Einnahmen aus einer in den Niederlanden ausgeübten freiberuflichen Tätigkeit stehen.

2. Das zur Ermittlung von Amts wegen verpflichtete Finanzgericht (FG) muss auch Fragen nachgehen, über welche die Beteiligten nicht streiten, wenn inso­weit Zweifel bestehen.

3. Es ist Aufgabe des FG als Tatsacheninstanz, das maßgebende ausländische Recht gemäß § 155 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung i.V.m. § 293 der Zivil­prozessordnung von Amts wegen zu ermitteln. Wie das FG das ausländische Recht ermittelt, steht in seinem pflichtgemäßen Ermessen. Die Feststellungen zu Bestehen und Inhalt des ausländischen Rechts sind für das Revisionsgericht grundsätzlich bindend. Fehlen jedoch die erforderlichen Feststellungen zum maßgeblichen ausländischen Recht, liegt ein materieller Mangel vor.

AEUV Art. 49
EStG § 10 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 3a und Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, § 32b
FGO § 76 Abs. 1 Satz 1, § 118 Abs. 1
ZPO § 293, § 560

BFH-Urteil vom 24.05.2023, X R 28/21 (veröffentlicht am 31.8.2023)

Vorinstanz: FG Düsseldorf vom 21.10.2021 ‑ 9 K 1517/20 E (EFG 2023, 127)

I. Die Kläger, Revisionsbeklagten und Revisionskläger (Kläger) wohnen in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) und wurden im Streitjahr 2018 zur Einkommensteuer zusammenveranlagt. Der Kläger war im Inland nichtselb­ständig tätig und bezog Arbeitslohn in Höhe von 32.851 €. Die Klägerin arbei­tete als selbständige Hebamme in den Niederlanden und erzielte aus dieser Tätigkeit einen (nach deutschem Recht ermittelten) Gewinn von 30.267 €. Sie hatte den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) zufolge in den Niederlanden neben einem einkommensunabhängigen gesetzlichen Basisbeitrag zur Kran­kenversicherung (sogenannte Kopfpauschale) in Höhe von 1.352 € weitere einkommensabhängige Sozialversicherungsbeiträge geleistet, und zwar 6.084 € zur Rentenversicherung, 3.113 € zur Pflegeversicherung sowie 1.120 € zur Krankenversicherung.

Ebenfalls nach den Feststellungen des FG unterlag der von der Klägerin erziel­te Gewinn in den Niederlanden nach Berücksichtigung von Grundfreibeträgen und der wegen der Lebens- und Einkommenssituation der Klägerin insgesamt höheren "Heffingskorting" (Steuerabzug für die persönlichen Verhältnisse) in Höhe von 7.460 € keiner Einkommensteuerbelastung.

Der Beklagte, Revisionskläger und Revisionsbeklagte (Finanzamt ‑‑FA‑‑) be­rücksichtigte den Gewinn der Klägerin bei der Ermittlung der Einkünfte nicht, erfasste ihn aber im Rahmen des Progressionsvorbehalts. Die Beiträge zur niederländischen Sozialversicherung hingegen blieben sowohl bei der Ermitt­lung des Einkommens als auch bei der Höhe des Progressionsvorbehalts unbe­rücksichtigt.

Die dagegen gerichtete Klage hatte teilweise Erfolg (Entscheidungen der Fi­nanzgerichte ‑‑EFG‑‑ 2023, 127). Das FG entschied, das FA habe zwar zu Recht die in den Niederlanden gezahlten einkommensabhängigen Vorsorge­aufwendungen (Renten‑ und Pflegeversicherungsbeiträge sowie Beiträge zur Zusatzversicherung zur Krankenversicherung) nicht als Sonderausgaben be­rücksichtigt und diese minderten auch nicht die im Rahmen des Progressions­vorbehalts anzusetzenden steuerfreien Einkünfte. Allerdings sei eine Berück­sichtigung der einkommensunabhängigen Beiträge zur niederländischen Kran­kenversicherung, der sogenannten Kopfpauschale, europarechtlich geboten; denn § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) müsse bei einem unmittelbaren Zusammenhang der Vorsorgeaufwendungen mit Einnahmen aus selbständiger Arbeit jedenfalls dann sinngemäß angewen­det werden, wenn ‑‑wie im Streitfall‑‑ Selbständige ebenso wie Nichtselbstän­dige Pflichtbeiträge in ein Sozialversicherungssystem zu leisten hätten. Dies ergebe sich unmittelbar aus der europarechtlichen Niederlassungsfreiheit (Art. 49 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ‑‑AEUV‑‑) und der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH), insbesondere aus dem EuGH-Urteil Bechtel vom 22.06.2017 ‑ C‑20/16 (EU:C:2017:488, BStBl II 2017, 1271).

Dagegen wendet sich das FA mit seiner Revision. Da die von der Klägerin in den Niederlanden erzielten Einnahmen in Deutschland steuerfrei gewesen sei­en, dürften die in den Niederlanden geleisteten Versicherungsbeiträge gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 1 EStG in Deutschland insgesamt nicht be­rücksichtigt werden; denn sowohl die einkommensabhängigen Versorgungs­beiträge als auch die sogenannte Kopfpauschale stünden in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit den steuerfreien Einnahmen der Klägerin. Ausgenommen von diesem Abzugsverbot seien gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. a EStG nur Einnahmen aus nichtselbständiger Tätig­keit, die die Klägerin aber unstreitig nicht erzielt habe. Der Wortlaut dieser Re­gelung sei eindeutig. Es liege auch keine Regelungslücke vor, die eine entspre­chende Anwendung rechtfertigen würde. Es sei davon auszugehen, dass der Gesetzgeber bewusst aufgrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Art. 45 AEUV in der Europäischen Union (EU) nur Nichtselbständige habe begünstigen wollen.

Ungeachtet dessen setze die Ausnahmeregelung gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. c EStG außerdem voraus, dass der Beschäftigungs­staat im Rahmen der dortigen Besteuerung der Einnahmen keinerlei steuerli­che Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen zulasse. Diese Vorausset­zung sei hier nicht erfüllt; denn nach den Feststellungen des FG sei in den Niederlanden zumindest ein Teil der Vorsorgeaufwendungen der Klägerin im Rahmen der Heffingskorting steuerlich berücksichtigt worden. Dies betreffe vorliegend sogar Vorsorgeaufwendungen derselben Sparte (Krankenversiche­rung). Dass die in den Niederlanden geleisteten Vorsorgeaufwendungen in Deutschland nicht berücksichtigt werden könnten, verstoße somit auch nicht gegen die Niederlassungsfreiheit. Denn nach ständiger Rechtsprechung sei ein solcher Ausschluss unter dem Gesichtspunkt der zu wahrenden Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse unionsrechtlich gerechtfertigt und damit zulässig, wenn im Falle einer grenzüberschreitenden Erwerbstätigkeit der Beschäfti­gungsstaat Vergünstigungen, die die persönliche und familiäre Situation des Erwerbstätigen beträfen, auf freiwilliger Basis gewähre und dadurch die ge­samte persönliche und familiäre Situation des Steuerpflichtigen "im Ganzen gebührend" berücksichtigt werde (Hinweis auf Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 13.04.2021 ‑ I R 19/19, BFH/NV 2021, 1357, Rz 19). Diese Vor­aussetzung sei im Streitfall erfüllt; der Großteil des Vorsorgeaufwands der Klä­gerin habe Eingang in die niederländische Steuerermittlung gefunden. Die Be­rücksichtigung sei auch nicht so geringfügig, dass aus unionsrechtlichen Grün­den der Sonderausgabenabzug in Deutschland geboten sei (Hinweis auf Se­natsurteil vom 05.11.2019 ‑ X R 23/17, BFHE 267, 34, BStBl II 2020, 763, Rz 56).

Das FA beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage vollumfänglich abzu­weisen.

Die Kläger haben in Bezug auf die Revision des FA keinen Antrag gestellt.

Mit ihrer eigenen Revision machen die Kläger geltend, auch die einkommens­abhängigen Vorsorgeaufwendungen seien als Sonderausgaben zu berücksich­tigen. Zum einen stelle die Heffingskorting schon keine steuerliche Berücksich­tigung von Vorsorgeaufwendungen dar; denn die sich daraus in Form eines Steuerabzugs ergebende Kürzung stehe weder dem Grunde noch der Höhe nach in einem Zusammenhang mit den tatsächlich gezahlten Sozialversiche­rungsbeiträgen. Zum andern sei die Bundesrepublik Deutschland in dem mit dem Königreich der Niederlande geschlossenen Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen vom 12.04.2012 (BGBl II 2012, 1415) in der Fassung des Änderungsprotokolls vom 11.01.2016 (BGBl II 2016, 868 ‑‑DBA-Niederlande 2012‑‑) von ihrer Verpflichtung zur vollständigen Berück­sichtigung der persönlichen und familiären Situation der Steuerpflichtigen, die in Deutschland wohnten und ihre wirtschaftliche Betätigung in den Niederlanden ausübten, nicht entbunden worden. Daher werde selbst eine Doppelberücksichtigung von Vergünstigungen ‑‑die im Streitfall allerdings nicht vorläge‑‑ rechtlich nicht ausgeschlossen. Darüber hinaus sei das DBA-Niederlande 2012 mit Wirkung zum 01.01.2016 im Hinblick auf die Besteuerung von Alterseinkünften gravierend geändert worden. Mit Ausnahme beamtenrechtli­cher Bezüge sei das Besteuerungsrecht für sämtliche Alterseinkünfte dem Wohnsitzstaat zugeordnet worden. Für den Streitfall bedeute dies, dass die durch die Rentenversicherungsbeiträge erworbenen Ansprüche der Klägerin in der Auszahlungsphase im Wohnsitzstaat Deutschland nachgelagert besteuert würden. Allein daraus müsse sich schon ein Abzug der geleisteten Beiträge ergeben. Schließlich sei darauf hinzuweisen, dass sich das FG nicht mit dem niederländischen Steuersystem auseinandergesetzt habe.

Die Kläger beantragen (sinngemäß),
das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit damit die Klage abgewiesen worden ist, und den geänderten Einkommensteuerbescheid für 2018 vom 06.05.2020 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19.05.2020 dahingehend zu ändern, dass weitere Sonderausgaben in Höhe von 11.669 € abgezogen werden.

Das FA tritt dem entgegen und ist der Auffassung, es fehle jedenfalls an der in § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. c EStG genannten Voraussetzung, da das FG bindend festgestellt habe, dass die Heffingskorting eine steuerliche Berücksichtigung der einkommensabhängigen Sozialversicherungsbeiträge darstelle. Dies betreffe die (einkommensabhängigen) Beiträge der Klägerin zur niederländischen Rentenversicherung, Krankenversicherung (ohne sogenannte Kopfpauschale) und Pflegeversicherung. Ebenfalls bindend festgestellt habe das FG, dass die sogenannte Kopfpauschale in den Niederlanden steuerlich nicht berücksichtigt werde. Da jedoch der Großteil des Vorsorgeaufwands Eingang in die niederländische Steuerermittlung gefunden habe und dabei auch sämtliche Sparten von Vorsorgeaufwendungen steuerlich berücksichtigt worden seien, sei eine staatenübergreifende Berücksichtigung der streitigen Beträge in Deutschland als Wohnsitzstaat auch unionsrechtlich nicht geboten.

II. Die Revisionen des FA und der Kläger sind begründet. Sie führen zur Aufhe­bung der Vorentscheidung und Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanz­gerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).

Ob der Abzug der streitigen Vorsorgeaufwendungen nach § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG ausgeschlossen ist, lässt sich anhand der Feststellungen des FG nicht beurteilen.

1. Gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 1 EStG ist Voraussetzung für den Abzug der in § 10 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 3a EStG bezeichneten Beträge (Vorsor­geaufwendungen), dass sie nicht in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusam­menhang mit steuerfreien Einnahmen stehen. Durch diese Regelung soll ein ansonsten eintretender doppelter steuerlicher Vorteil vermieden werden (Se­natsurteile vom 05.11.2019 ‑ X R 23/17, BFHE 267, 34, BStBl II 2020, 763, Rz 15 sowie vom 27.10.2021 ‑ X R 11/20, BFHE 275, 52, Rz 16 und vom 14.12.2022 ‑ X R 25/21, Deutsches Steuerrecht ‑‑DStR‑‑ 2023, 927, Rz 20; BFH-Beschluss vom 22.02.2023 ‑ I R 55/20, BFH/NV 2023, 801; Kulosa in Herrmann/Heuer/Raupach ‑‑HHR‑‑, § 10 EStG Rz 303; Schmidt/Krüger, EStG, 42. Aufl., § 10 Rz 136).

Gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 EStG sind ungeachtet dessen die genannten Vorsorgeaufwendungen zu berücksichtigen, soweit sie in unmittel­barem wirtschaftlichen Zusammenhang mit in einem Mitgliedstaat der EU oder einem Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) oder in der Schweizerischen Eidgenossenschaft erzielten Einnahmen aus nichtselbständiger Tätigkeit stehen (Buchst. a), diese Einnahmen nach einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung im Inland steuerfrei sind (Buchst. b) und der Beschäftigungsstaat keinerlei steuerliche Berücksich­tigung von Vorsorgeaufwendungen im Rahmen der Besteuerung dieser Ein­nahmen zulässt (Buchst. c). Diese Regelungen sind gemäß § 52 Abs. 18 Satz 4 EStG i.d.F. des Gesetzes zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel mit Waren im Internet und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 11.12.2018 (BGBl I 2018, 2338, BStBl I 2018, 1377) auf alle "offenen Fälle" anzuwenden.

2. Im vorliegenden Streitfall kann schon nicht festgestellt werden, ob es sich bei den von der Klägerin in den Niederlanden geleisteten streitigen Beiträgen tatsächlich um Vorsorgeaufwendungen im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 3a EStG handelt und in welcher Höhe gegebenenfalls entsprechende Beiträge geleistet worden sind.

a) Zwar hat das FG ausgeführt, die Klägerin habe "sowohl einkommensabhän­gige Beiträge zur Renten‑ und Pflegeversicherung ... und zur Krankenversiche­rung als auch den gesetzlichen Basisbeitrag zur Krankenversicherung" geleis­tet. Zudem geht das FG offenbar davon aus, dass es sich hierbei um Beiträge im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 3a EStG gehandelt hat.

Allerdings lässt sich dem angefochtenen Urteil nicht entnehmen, auf welcher tatsächlichen Grundlage und nach welchen rechtlichen Bestimmungen das FG zu diesem Schluss gelangt ist. Die vom FG genannten Zahlungen lassen sich weder dem Grunde nach den jeweiligen Versicherungen zuordnen noch der Höhe nach nachvollziehen. Entsprechende Ausführungen finden sich in dem angefochtenen Urteil nicht. Die dem Senat vorliegenden Akten enthalten auch keine Abrechnungen oder Belege, aus denen sich entsprechende Zahlungen in der vom FG angenommenen Höhe ergeben würden.

b) Es genügt nicht, dass die Beteiligten selbst übereinstimmend von entspre­chenden Zahlungen ausgegangen sind und die diesbezüglichen Feststellungen des FG demgemäß auch nicht angegriffen haben.

aa) Gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen.

Umfang und Intensität der dabei anzustellenden Ermittlungen können zwar einerseits auch vom Vortrag und Verhalten der Beteiligten abhängen. Insbe­sondere ist das FG nicht verpflichtet, einen zwischen den Beteiligten nicht streitigen Sachverhalt ohne bestimmten Anlass zu erforschen (vgl. BFH-Urteil vom 25.02.2015 ‑ XI R 15/14, BFHE 249, 343, BStBl II 2023, 514, Rz 85; BFH-Beschluss vom 22.08.2006 ‑ I B 21/06, BFH/NV 2007, 10, unter 1.a).

Andererseits rechtfertigt jedoch allein der Umstand, dass das FA dem Vortrag eines Steuerpflichtigen nicht entgegengetreten ist, für sich genommen nicht, auf weitere Sachverhaltsaufklärung zu verzichten; § 138 Abs. 3 der Zivilpro­zessordnung (ZPO) gilt im finanzgerichtlichen Verfahren nicht. Insbesondere dann, wenn sich in Bezug auf entscheidungserhebliche Tatsachen Zweifel er­geben, kann und muss das FG diesen daher auch dann nachgehen, wenn die Beteiligten darüber nicht streiten (vgl. Senatsurteil vom 17.05.1995 ‑ X R 185/93, BFH/NV 1995, 1076, unter 1. und Senatsbeschluss vom 28.09.2011 ‑ X B 35/11, BFH/NV 2012, 177, Rz 10; ebenso BFH-Urteil vom 25.02.2015 ‑ XI R 15/14, BFHE 249, 343, BStBl II 2023, 514, Rz 84; BFH-Be­schluss vom 22.08.2006 ‑ V B 59/04, BFH/NV 2007, 116).

bb) Im vorliegenden Streitfall ergeben sich in Bezug auf die streitigen Vorsor­geaufwendungen schon deshalb Zweifel, weil sich die von den Klägern geltend gemachten Beträge nicht den Beträgen, die sich aus den vorgelegten Beschei­den des niederländischen Belastingdienstes (Bl. 58 f. und Bl. 60 f. der FG-Akte) ergeben, zuordnen lassen.

Die dem FG gegebene Auskunft des FA, die in dem niederländischen Steuerbe­scheid aufgeführten Beträge entsprächen "den tatsächlichen Beiträgen ohne Anwendung des von der Finanzverwaltung im Hinblick auf die Heffingskorting entwickelten Tools" (s. Telefonvermerk vom 08.10.2021 ‑ Bl. 71 der FG-Akte), lässt sich so ebenfalls nicht nachvollziehen. Einen Nachweis über die "tatsäch­lichen Beiträge" haben die Kläger offenbar nicht vorgelegt. Welche Modifikati­onen das genannte "Tool" vornimmt und warum eine solche notwendig ist be­ziehungsweise ob die sich daraus ergebenden Beträge zutreffend sind, hätte vom FG aufgeklärt werden müssen. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass es aus Sicht des FA auf einen Nachweis der geltend gemachten Beträge nicht ankam, da vom Rechtsstandpunkt des FA aus die Beträge insgesamt nicht zu berücksichtigen sind.

3. Im Streitfall kann die Frage, ob es sich bei den von der Klägerin in den Niederlanden geleisteten streitigen Beiträgen um Vorsorgeaufwendungen im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 3a EStG handelt und in welcher Höhe ‑‑gegebenenfalls‑‑ entsprechende Beiträge geleistet worden sind, nicht dahin­gestellt bleiben. Denn eine Berücksichtigung als Sonderausgaben ist entgegen der Auffassung des FA nicht schon von vornherein nach § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG ausgeschlossen.

Zwar handelt es sich bei den Beiträgen ‑‑gegebenenfalls‑‑ um Vorsorgeauf­wendungen, die in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit steuer­freien Einnahmen gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 1 EStG stehen (un­ter a). Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese Vorsorgeauf­wendungen gleichwohl gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 EStG zu be­rücksichtigen sind (unter b).

a) Die von der Klägerin geltend gemachten Vorsorgeaufwendungen stehen ‑‑gegebenenfalls‑‑ in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 1 EStG.

aa) Ein solcher Zusammenhang ist immer dann anzunehmen, wenn die Ein­nahmen und die Aufwendungen durch dasselbe Ereignis veranlasst sind. Diese Voraussetzung wiederum ist erfüllt, wenn ein Steuerpflichtiger steuerfreie Ein­nahmen erzielt und dieser Tatbestand gleichzeitig Pflichtbeiträge an einen So­zialversicherungsträger auslöst; in diesem Fall geht die Steuerbefreiung dem Sonderausgabenabzug vor. Die mit der Verausgabung der Pflichtbeiträge ver­bundene Minderung der Leistungsfähigkeit wird bereits durch den Bezug der steuerfreien Einnahmen aufgefangen (Senatsurteile vom 05.11.2019 ‑ X R 23/17, BFHE 267, 34, BStBl II 2020, 763, Rz 15 und vom 18.04.2012 ‑ X R 62/09, BFHE 237, 434, BStBl II 2012, 721, Rz 17, m.w.N.). Ein doppelter steuerlicher Vorteil ‑‑also Steuerbefreiung und Sonderausgabenabzug‑‑ soll ausgeschlossen werden (BFH-Beschluss vom 22.02.2023 ‑ I R 55/20, BFH/NV 2023, 801, Rz 10, m.w.N.).

Eine solche Konstellation ist nach der Senatsrechtsprechung unter anderem dann gegeben, wenn grundsätzlich abzugsfähige Vorsorgeaufwendungen auf Einnahmen beruhen, die im Inland aufgrund eines Doppelbesteuerungsab­kommens steuerfrei gestellt werden, und zwar ‑‑entgegen der Ansicht der Kläger‑‑ unabhängig davon, ob die künftigen Leistungen aus einer Rentenver­sicherung im Inland steuerpflichtig sind (Senatsurteile vom 14.12.2022 ‑ X R 25/21, DStR 2023, 927, Rz 24 und vom 05.11.2019 ‑ X R 23/17, BFHE 267, 34, BStBl II 2020, 763, Rz 16, jeweils m.w.N.).

bb) Ob hier die streitigen Aufwendungen im unmittelbaren wirtschaftlichen Zusammenhang mit den Einnahmen der Klägerin aus ihrer in den Niederlanden ausgeübten Tätigkeit als selbständige Hebamme stehen und ob diese Einnahmen gemäß Art. 7 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 Buchst. g DBA-Niederlande 2012 im Inland steuerfrei sind, kann der Senat allerdings gegenwärtig nicht ent­scheiden. Denn das FG hat auch insoweit keine Feststellungen getroffen, die es erlauben würden, hierzu eine rechtliche Einordnung vorzunehmen bezie­hungsweise die von dem FG vorgenommene Einordnung nachzuvollziehen. Es ist bereits nicht festgestellt worden, in welcher Weise die Klägerin ihre Tätig­keit als selbständige Hebamme in den Niederlanden ausgeübt hat; vor allem aber geht aus dem angefochtenen Urteil nicht hervor, nach welchen (nieder­ländischen) Vorschriften die von der Klägerin erzielten Einkünfte Pflichtbeiträ­ge zum niederländischen Sozialversicherungssystem ausgelöst haben. Auf wel­cher Grundlage das FG annimmt, dass ein solcher Zusammenhang "offenkun­dig" sei, kann der erkennende Senat wiederum nicht nachvollziehen.

b) Auch wenn man ‑‑mit den Beteiligten und mit dem FG‑‑ davon ausgeht, dass die streitigen Vorsorgeaufwendungen in einem unmittelbaren wirtschaftli­chen Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen der Klägerin stehen, kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass die streitigen Vorsorgeauf­wendungen gleichwohl gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 EStG als Sonderausgaben zu berücksichtigen sind.

aa) Zutreffend ist das FG davon ausgegangen, dass § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. a EStG auch für Vorsorgeaufwendungen gilt, die im Zusam­menhang mit Einkünften aus einer freiberuflichen Tätigkeit stehen.

(1) Zwar ist dem FA zuzugeben, dass sich dieses Ergebnis nicht aus der Rege­lung des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. a EStG selbst herleiten lässt. Der sachliche Anwendungsbereich dieser Bestimmung ist nach ihrem Wortlaut ausdrücklich und unmissverständlich auf Einnahmen aus nichtselb­ständiger Tätigkeit beschränkt und soll zudem nach ihrer Entstehungsge­schichte (s. Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 24.09.2018, BTDrucks 19/4455, S. 41 f.) und ebenso nach ihrem Sinn und Zweck allein der unions­rechtlichen Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Art. 45 AEUV Geltung verschaf­fen. Eine Auslegung gegen den Wortlaut stünde damit im Widerspruch zu dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers und ließe sich auch nicht mit ver­fassungsrechtlichen Überlegungen rechtfertigen (vgl. allgemein Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts ‑‑BVerfG‑‑ vom 15.10.1996 ‑ 1 BvL 44, 48/92, BVerfGE 95, 64, 93 und vom 16.08.2001 ‑ 1 BvL 6/01, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht ‑ Rechtsprechungs-Report 2002, 117, unter II.1.).

(2) Doch muss die in § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. a EStG ent­haltene Ausnahme vom Ausschluss des Sonderausgabenabzugs entgegen dem Wortlaut dieser Regelung auch dann Anwendung finden, wenn eine Steuer­pflichtige ‑‑wie im Streitfall‑‑ in einem anderen Mitgliedstaat der EU als Be­schäftigungsstaat einer selbständigen Tätigkeit nachgeht.

(a) Dies gebietet die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV, die von ei­nem nationalen Gericht im Rahmen ihrer Zuständigkeit als unmittelbar gelten­des Recht zu beachten ist. Dieses ist nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verpflichtet, für die volle Wirksamkeit der Anforderungen dieses Rechts in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit Sorge zu tragen, indem es er­forderlichenfalls jede nationale Regelung, die einer Grundfreiheit entgegen­steht, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser nationalen Regelung oder Praxis auf gesetz­geberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Ver­fahren beantragen oder abwarten müsste (ständige Rechtsprechung, vgl. EuGH-Urteile T.C. u.a. vom 16.02.2023 ‑ C‑638/22 PPU, EU:C:2023:103, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 2023, 692, Rz 90 und The Minister for Justice and Equality and Commissioner of the Garda Siochana vom 04.12.2018 ‑ C‑378/17, EU:C:2018:979, Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht 2019, 27, Rz 35, m.w.N.).

Der EuGH hat in seiner Entscheidung Bechtel (EU:C:2017:488, BStBl II 2017, 1271, Rz 44 ff.) den Ausschluss des Sonderausgabenabzugs für Vorsorgeauf­wendungen gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG a.F. unter bestimmten Vor­aussetzungen als nicht mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV) ver­einbar angesehen, sofern ein Steuerpflichtiger, der von dieser Grundfreiheit Gebrauch macht, im Hinblick auf die unter Progressionsvorbehalt stattfindende Steuerfreistellung des ausländischen Arbeitslohns in seinem Wohnsitzstaat Aufwendungen, die die persönliche und familiäre Situation betreffen, steuerlich nicht in Abzug bringen kann und somit schlechter steht, als wenn er in seinem Wohnsitzstaat als Arbeitnehmer tätig wäre. Aufgrund dessen haben zunächst die Finanzverwaltung (Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 11.12.2017, BStBl I 2017, 1624) und nachfolgend der Gesetzgeber den Ab­zugsausschluss im Hinblick auf die eingangs genannten Voraussetzungen mo­difiziert, dies aber ‑‑offensichtlich anknüpfend an die Konstellation der EuGH-Entscheidung‑‑ (unter anderem) auf Einnahmen aus nichtselbständiger Tätig­keit beschränkt.

(b) Das FG hat insoweit zutreffend erkannt, dass die Gründe, die der EuGH in seiner Entscheidung für den von ihm festgestellten Verstoß des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG a.F. gegen die in Art. 45 AEUV gewährleistete Arbeitneh­merfreizügigkeit angeführt hat, in gleicher Weise auch ‑‑unter Berücksichti­gung der in Art. 49 AEUV gewährleisteten Niederlassungsfreiheit‑‑ für eine entsprechende Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen herangezogen werden können, die in einem unmittelbaren wirtschaftlichen Zusammenhang mit steuerfreien Einnahmen aus einer selbständigen Tätigkeit stehen. Denn die Einschränkung des Abzugs von Vorsorgeaufwendungen nach § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 1 EStG verbunden mit der fehlenden Aufnahme der selb­ständigen Tätigkeit in die Ausnahmeregelung des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. a EStG beschränkt die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV in gleicher Weise, wie die Einschränkung des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG a.F. die Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Art. 45 AEUV beschränkt hat. Warum in einem solchen Fall im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV andere Maßstäbe gelten sollten, erschließt sich dem erkennen­den Senat nicht (vgl. auch Korn, DStR 2019, 1, 5; Reddig, juris PraxisReport Steuerrecht 26/2020, Anm. 2, unter C.IV.; Lutter, EFG 2021, 628, 629; HHR/Kulosa, § 10 EStG Rz 304; Bleschick in Kirchhof/Seer, EStG, 22. Aufl., § 10 Rz 35b; Kempny in Musil/Weber-Grellet, 2. Aufl., EStG § 10 Rz 31a).

Die oben dargestellten Grundsätze hat der EuGH erkennbar nicht allein auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit bezogen; in seinem Urteil Imfeld und Garcet vom 12.12.2013 ‑ C‑303/12 (EU:C:2013:822, Höchstrichterliche Finanzrechtspre­chung ‑‑HFR‑‑ 2014, 183) hat er sie unter anderem auch auf die Niederlas­sungsfreiheit angewandt. Zudem zeigt das EuGH-Urteil Montag vom 06.12.2018 ‑ C‑480/17 (EU:C:2018:987, DStR 2018, 2622), auch wenn es darin um einen beschränkt Steuerpflichtigen ging, dass der EuGH in Bezug auf die Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen in Form von Pflichtbeiträgen Einnahmen aus einer selbständigen Tätigkeit grundsätzlich nicht anders be­handelt als Einnahmen aus einer nichtselbständigen Tätigkeit.

(c) Es entspricht ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung, im Fall einer solchen Kollision von Unionsrecht und nationalem Recht dem Anwendungsvor­rang des Unionsrechts dadurch Geltung zu verschaffen, dass die einschlägige nationale Regelung normerhaltend in der Weise angewendet wird, dass das unionsrechtswidrige Tatbestandsmerkmal bei der Rechtsanwendung unberück­sichtigt bleibt (Senatsurteile vom 27.10.2021 ‑ X R 11/20, BFHE 275, 52, Rz 27 und vom 05.11.2019 ‑ X R 23/17, BFHE 267, 34, BStBl II 2020, 763, Rz 44; BFH-Urteile vom 20.09.2006 ‑ I R 113/03, BFH/NV 2007, 220, unter III.1. und vom 22.07.2008 ‑ VIII R 101/02, BFHE 222, 453, BStBl II 2010, 265, unter IV.1.; vgl. auch Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Aufl., Kap. 4 Rz 24 ff.).

Folglich führt der Anwendungsvorrang der Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV im Streitfall dazu, dass bei der Anwendung des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. a EStG die unionsrechtswidrige Beschränkung des sachlichen Anwendungsbereichs der Ausnahmeregelung auf Einnahmen aus "nichtselbständiger" Tätigkeit nicht beachtet wird. Die Regelung ist viel­mehr auch auf Einnahmen aus selbständiger Tätigkeit anzuwenden.

(3) Eine Vorlage zur Vorabentscheidung an den EuGH gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV kommt insoweit nicht in Betracht. Die Unionsrechtslage ist, insbesonde­re unter Berücksichtigung des EuGH-Urteils Montag (EU:C:2018:987, DStR 2018, 2622), in Bezug auf die Bedeutung der Niederlassungsfreiheit für die Frage nach der Zulässigkeit von Beschränkungen beim steuerlichen Abzug von Aufwendungen für die persönliche und familiäre Situation des Steuerpflichtigen hinreichend geklärt und damit eindeutig (vgl. zur acte-clair-Rechtsprechung u.a. EuGH-Urteil C.I.L.F.I.T. vom 06.10.1982 ‑ Rs. 283/81, EU:C:1982:335, Slg. 1982, 3415, Rz 13 ff.; BVerfG-Beschluss vom 04.03.2021 ‑ 2 BvR 1161/19, HFR 2021, 504, Rz 55, m.w.N.; Senatsurteil vom 27.10.2021 ‑ X R 11/20, BFHE 275, 52, Rz 32 und BFH-Urteil vom 13.04.2021 ‑ I R 19/19, BFH/NV 2021, 1357, Rz 27; Fehling in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2. Aufl., Gerichtliche Durch­setzung des Unionsrechts, Rz 27.16.).

bb) Ob im Streitfall auch die Voraussetzungen des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. b EStG erfüllt sind, dass die Einnahmen der Klägerin aus selbständiger Arbeit nach einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (DBA) im Inland steuerfrei sind, kann der er­kennende Senat nicht ohne finanzgerichtliche Feststellungen zu der Frage ent­scheiden, in welcher Weise die Klägerin ihre Tätigkeit als Hebamme in den Niederlanden ausgeübt hat. Die Ausübung einer freiberuflichen oder sonstigen selbständigen Tätigkeit wird gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. f und g DBA-Niederlande 2012 den Unternehmensgewinnen zugerechnet und für Unternehmens­gewinne gilt gemäß Art. 7 Abs. 1 Satz 1 DBA-Niederlande 2012 vom Ausgangspunkt her das Wohnsitzprinzip. Das Besteuerungsrecht liegt damit beim Wohnsitz­staat (hier: Deutschland), wenn die Geschäftstätigkeit nicht durch eine in dem anderen Staat (hier: den Niederlanden) belegene Betriebsstätte (Art. 5 DBA-Niederlande 2012) ausgeübt wird. Feststellungen zu einer Betriebsstätte der Kläge­rin fehlen jedoch bislang. Auch in der niederländischen Gewinnermittlung der Klägerin finden sich ‑‑soweit ersichtlich‑‑ keine Hinweise auf Aufwendungen für eine Praxis oder sonstige Räumlichkeiten.

cc) Ob und gegebenenfalls in welchem Umfang schließlich eine Berücksichti­gung der streitigen Aufwendungen im Inland gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. c EStG aufgrund einer steuerlichen Berücksichtigung in den Niederlanden ausgeschlossen ist, kann der erkennende Senat ebenfalls nicht entscheiden, da das FG auch keine Feststellungen zu der Frage getroffen hat, in welcher Weise in den Niederlanden Vorsorgeaufwendungen bei der Besteue­rung von Einnahmen aus selbständiger Tätigkeit berücksichtigt werden. Dies gilt sowohl in Bezug auf die einkommensabhängigen Beiträge zur Renten‑, Kranken- und Pflegeversicherung als auch in Bezug auf den gesetzlichen Ba­sisbeitrag zur Krankenversicherung, die sogenannte Kopfpauschale.

Zwar geht das FG in Bezug auf die einkommensabhängigen Sozialversiche­rungsbeiträge in dem angefochtenen Urteil (auf S. 7, erster Absatz) davon aus, dass diese in den Niederlanden "bei der Besteuerung der Einkünfte der Klägerin im Wege einer Kürzung oder Verrechnung (in Gestalt der Heffingskorting) berücksichtigt" worden sind. Wie eine solche Berücksichtigung vorgenommen worden sein soll, kann der erkennende Senat jedoch wiederum nicht nachvollziehen, da das FG auch insoweit keine Feststellungen getroffen hat. Zunächst lässt das FG offen, aus welchen Vorschriften des niederländi­schen Steuerrechts sich ergibt, dass mit dem niederländischen Heffingskorting Vorsorgeaufwendungen im Rahmen der Besteuerung der Einnahmen der Klä­gerin aus selbständiger Arbeit berücksichtigt werden. Des Weiteren bleibt of­fen, in welcher Art und Weise und in welchem tatsächlichen Umfang im Streit­fall eine solche Berücksichtigung erfolgt ist.

In Bezug auf die sogenannte Kopfpauschale, den gesetzlichen Basisbeitrag zur Krankenversicherung, gilt dies gleichermaßen. Denn da bereits nicht ersichtlich ist, in welcher Weise die einkommensabhängigen Sozialversicherungsbeiträge steuerlich berücksichtigt worden sind, lässt sich auch keine Aussage zu der Frage treffen, ob eine Berücksichtigung weiterer, einkommensunabhängiger Beiträge nach § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. c EStG ausgeschlos­sen ist.

4. In Anbetracht dessen ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverwei­sen. Eine eigene Entscheidung ist dem Senat nicht möglich, da das FG ‑‑wie dargelegt‑‑ weder die notwendigen Tatsachenfeststellungen noch die erforder­lichen Feststellungen zum maßgeblichen ausländischen Recht getroffen hat.

a) Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung ist es Aufgabe des FG als Tatsacheninstanz, das maßgebende ausländische Recht gemäß § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 293 ZPO von Amts wegen zu ermitteln. Wie es dies tut, steht in seinem pflichtgemäßen Ermessen. Die Anforderungen an Umfang und Intensität der Ermittlungspflicht des Tatrichters lassen sich nur in sehr einge­schränktem Maße generell-abstrakt bestimmen. Jedenfalls sind an die Ermitt­lungspflicht umso höhere Anforderungen zu stellen, je komplexer oder je fremder das anzuwendende Recht im Vergleich zum eigenen ist. Gleiches gilt, wenn die Beteiligten zur ausländischen Rechtspraxis detailliert und kontrovers vortragen. Der Umstand, dass das ausländische Recht gegebenenfalls sehr komplex ist, kann das FG von dieser Ermittlungspflicht nicht entbinden (s. im Einzelnen Senatsurteil vom 22.03.2018 ‑ X R 5/16, BFHE 261, 132, BStBl II 2018, 651, Rz 22 ff. und BFH-Urteil vom 19.10.2021 ‑ VII R 7/18, BFHE 276, 189, Rz 63 ff., jeweils m.w.N.).

Eine Revision kann nicht darauf gestützt werden, dass die Vorentscheidung auf einer fehlerhaften Anwendung ausländischen Rechts beruhe; denn ausländi­sches Recht gehört nicht zum "Bundesrecht" im Sinne des § 118 Abs. 1 FGO. Vielmehr sind die Feststellungen über das Bestehen und den Inhalt ausländi­schen Rechts für das Revisionsgericht grundsätzlich bindend (§ 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 560 ZPO). Sie sind revisionsrechtlich wie Tatsachenfeststellungen zu behandeln (z.B. BFH-Urteile vom 19.10.2021 ‑ VII R 7/18, BFHE 276, 189, Rz 63 und vom 19.01.2017 ‑ IV R 50/14, BFHE 257, 35, BStBl II 2017, 456, Rz 61), auch wenn die ausländischen Rechtssätze dadurch nicht selbst zu Tat­sachen werden und eine Entscheidung nach den Grundsätzen der Feststel­lungslast in diesem Bereich daher nicht möglich ist (Senatsurteil vom 22.03.2018 ‑ X R 5/16, BFHE 261, 132, BStBl II 2018, 651, Rz 23 und BFH-Urteil vom 25.06.2021 ‑ II R 13/19, BFHE 275, 231, BStBl II 2022, 481, Rz 22, jeweils m.w.N.).

Die revisionsrechtliche Bindungswirkung entfällt allerdings, soweit die erfor­derlichen Feststellungen zum maßgeblichen ausländischen Recht fehlen oder auf einem nur kursorischen Überblick über die zu behandelnde Materie beru­hen. In diesem Fall liegt ein materieller Mangel der Vorentscheidung vor (z.B. BFH-Urteile vom 20.04.2021 ‑ IV R 3/20, BFHE 273, 119, Rz 50 und vom 19.01.2017 ‑ IV R 50/14, BFHE 257, 35, BStBl II 2017, 456, Rz 61).

b) Unter Berücksichtigung dieser Rechtsgrundsätze liegt im Streitfall ein mate­rieller Mangel vor; denn es fehlen jegliche Feststellungen zum maßgeblichen niederländischen Recht. Solche Feststellungen wären aber schon deswegen geboten gewesen, weil die Rechtsfiguren des allgemeinen "Heffingskorting", des "Arbeitskorting" und des "einkommensabhängigen Kombinationskorting" dem deutschen Einkommensteuerrecht fremd sind.

5. Für den zweiten Rechtsgang weist der Senat ‑‑ohne Bindungswirkung nach § 126 Abs. 5 FGO‑‑ auf Folgendes hin:

a) Der erkennende Senat hat bereits entschieden, dass für die Frage, ob der Beschäftigungsstaat nach § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Teilsatz 2 Buchst. c EStG "keinerlei" steuerliche Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen im Rah­men der Besteuerung dort bezogener Einnahmen zulässt, die einzelnen Spar­ten der Vorsorgeaufwendungen getrennt zu beurteilen sind und dass Vorsor­geaufwendungen, die bei einer grenzüberschreitenden Tätigkeit bereits der Beschäftigungsstaat im Rahmen der Besteuerung der dort erzielten und im Inland steuerfreien Einnahmen zum Abzug zulässt, im Rahmen der inländi­schen Besteuerung nicht nochmals als Sonderausgaben zu berücksichtigen sind (Senatsurteil vom 27.10.2021 ‑ X R 28/20, BFHE 275, 63, Rz 29 ff.).

Die diesbezüglichen Ausführungen des erkennenden Senats beziehen sich zwar auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV). Sie gelten aber gleicherma­ßen auch im Zusammenhang mit der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) und werden daher auch im vorliegenden Streitfall zu berücksichtigen sein. Wegen der Einzelheiten wird auf die genannte Entscheidung Bezug genom­men.

b) Ebenfalls durch die höchstrichterliche Rechtsprechung geklärt ist, dass Vorsorgeaufwendungen nicht im Rahmen des Progressionsvorbehalts zu be­rücksichtigen sind.

Nach § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG sind die durch ein Abkommen zur Ver­meidung der Doppelbesteuerung von der deutschen Besteuerung freigestellten Einkünfte im Rahmen des Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen. Daran anknüpfend bestimmt § 32b Abs. 2 Nr. 2 EStG, dass die betreffenden Einkünf­te den anzuwendenden Steuersatz erhöhen oder vermindern. Folglich gehen nur "Einkünfte" in die von § 32b Abs. 2 Nr. 2 EStG vorgeschriebene Berech­nung ein. Sonderausgaben zählen jedoch nicht zu den Einkünften, sondern wer­den erst im Anschluss an die Ermittlung der Einkünfte vom Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen (§ 2 Abs. 4 EStG). Dies schließt ‑‑wie auch das FG zu­treffend erkannt hat‑‑ ihre Berücksichtigung im Rahmen des Progressionsvor­behalts aus (BFH-Urteil vom 03.11.2010 ‑ I R 73/09, BFH/NV 2011, 773, Rz 9 und Senatsurteil vom 18.04.2012 ‑ X R 62/09, BFHE 237, 434, BStBl II 2012, 721, Rz 43, m.w.N.; ebenso: BFH-Urteil vom 13.04.2021 ‑ I R 19/19, BFH/NV 2021, 1357, Rz 24; BFH-Beschluss vom 22.02.2023 ‑ I R 55/20, BFH/NV 2023, 801, Rz 17).

Stehen in einem Mitgliedstaat der EU oder des EWR beziehungsweise in der Schweiz geleistete Vorsorgeaufwendungen im Zusammenhang mit nach einem DBA steuerfreien ausländischen Einkünften, lässt sich eine entsprechende Ver­pflichtung auch nicht aus dem Unionsrecht herleiten, soweit die Berücksichti­gung dieser Vorsorgeaufwendungen durch ein DBA dem besteuernden Be­schäftigungsstaat übertragen worden ist (BFH-Urteil vom 13.04.2021 ‑ I R 19/19, BFH/NV 2021, 1357, Rz 26). Dasselbe gilt, wenn ‑‑wie möglicher­weise im Streitfall‑‑ die Entpflichtung des Wohnsitzstaats darauf beruht, dass der Beschäftigungsstaat die Vorsorgeaufwendungen außerhalb einer bilatera­len oder multilateralen Übereinkunft steuerlich berücksichtigt und den Steuer­pflichtigen dadurch entlastet (Senatsurteil vom 27.10.2021 ‑ X R 28/20, BFHE 275, 63, Rz 41). Beide Urteile sind wiederum zur Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV) ergangen, lassen sich aber ebenso auf die Niederlassungsfrei­heit (Art. 49 AEUV) übertragen. Wegen der Einzelheiten wird auf die genann­ten Urteile Bezug genommen.

6. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.

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