ErbStG § 14
AO § 108 Abs. 1 und 3
BGB § 187, § 188 Abs. 2
Vorinstanz: Niedersächsisches FG vom 16.6.2011, 3 K 136/11 (EFG 2012 S. 260 = SIS 11 31 52)
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) und seine Ehefrau übertrugen ihrem Sohn mit notariell beurkundetem Vertrag vom 31.12.1998 ein bebautes Grundstück unentgeltlich im Wege der vorweggenommenen Erbfolge. Der Wert der Zuwendung des Klägers belief sich auf 97.401 €. In der Folgezeit übertrug der Kläger seinem Sohn ebenfalls unentgeltlich mit notariell beurkundetem Vertrag vom 29.12.1999 ein bebautes Grundstück mit einem gesondert festgestellten Wert von 92.032 € und mit notariell beurkundetem Vertrag vom 31.12.2008 ein bebautes Grundstück unter Nießbrauchsvorbehalt mit einem gesondert festgestellten Wert von 194.000 €. In den Verträgen wurde jeweils die Auflassung beurkundet und die Eintragung der Rechtsänderung in das Grundbuch durch den Kläger bzw. seine Ehefrau bewilligt.
Mit Bescheid vom 9.12.2010 setzte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) für die Zuwendung vom 31.12.2008 Schenkungsteuer in Höhe von 20.889 € fest, wobei Vorerwerbe i.S. des § 14 Abs. 1 Satz 1 des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes (ErbStG) mit einem Wert von insgesamt 189.433 € berücksichtigt wurden. Das FA ging davon aus, die Zuwendung vom 31.12.1998 sei innerhalb des Zehnjahreszeitraums des § 14 Abs. 1 Satz 1 ErbStG erfolgt und damit bei der Berechnung der Steuer für den Letzterwerb einzubeziehen. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit der Begründung statt, die Schenkung vom 31.12.1998 sei nicht als Vorerwerb zu berücksichtigen, da sie außerhalb des Zehnjahreszeitraums des § 14 Abs. 1 Satz 1 ErbStG erfolgt sei. Dieser sei so zu bestimmen, dass die natürliche Länge von zehn Jahren nicht überschritten werden dürfe. Wegen der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung und des Eingriffscharakters jeder Steuer sei im Zweifel die den Steuerpflichtigen weniger belastende Auslegungsalternative der Besteuerung zugrunde zu legen. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2012, 260 veröffentlicht.
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung des § 14 Abs. 1 Satz 1 ErbStG. Bei dem Zehnjahreszeitraum des § 14 Abs. 1 Satz 1 ErbStG handele es sich um eine gesetzliche Frist. Diese berechne sich gemäß § 108 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) nach den §§ 187 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB), die bei "Rückwärtsfristen" analog anwendbar seien.
Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
II. Die Revision ist unbegründet und war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 4 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Das FG hat im Ergebnis zu Recht entschieden, dass die Zuwendung vom 31.12.1998 nicht als Vorerwerb bei der Berechnung der Schenkungsteuer für die Zuwendung vom 31.12.2008 zu berücksichtigen ist. Der Zehnjahreszeitraum des § 14 Abs. 1 Satz 1 ErbStG ist entgegen der Auffassung des FG nicht nach der natürlichen Länge von zehn Jahren, sondern nach § 108 Abs. 1 AO i.V.m. § 187 Abs. 2, § 188 Abs. 2 Alternative 2 BGB zu bestimmen.
1. Nach § 14 Abs. 1 Satz 1 ErbStG werden mehrere innerhalb von zehn Jahren von derselben Person anfallende Vermögensvorteile in der Weise zusammengerechnet, dass dem letzten Erwerb die früheren Erwerbe nach ihrem früheren Wert zugerechnet werden. Durch diese Regelung soll gewährleistet werden, dass die Freibeträge innerhalb des zehnjährigen Zusammenrechnungszeitraums nur einmal angewendet werden und sich für mehrere Erwerbe gegenüber einer einheitlichen Zuwendung in gleicher Höhe kein Progressionsvorteil ergibt. Die einzelnen Erwerbe bleiben jedoch selbständige steuerpflichtige Vorgänge, die jeweils für sich der Steuer unterliegen. Dabei ordnet § 14 Abs. 1 ErbStG für den jeweils letzten Erwerb innerhalb des Zehnjahreszeitraums eine besondere Steuerberechnung an (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 3.11.2010 II R 65/09, BFHE 231, 233, BStBl II 2011, 123).
2. Der Zehnjahreszeitraum des § 14 Abs. 1 Satz 1 ErbStG berechnet sich nach § 108 Abs. 1 AO i.V.m. § 187 Abs. 2, § 188 Abs. 2 Alternative 2 BGB.
a) Nach § 108 Abs. 1 AO gelten für die Berechnung von Fristen und für die Bestimmung von Terminen die §§ 187 bis 193 BGB entsprechend, soweit nicht durch § 108 Abs. 2 bis 5 AO etwas anderes bestimmt ist. § 108 AO gilt für die Berechnung aller verfahrensrechtlichen und materiellen Fristen im Steuerrecht (vgl. Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 108 AO Rz 10; Pahlke/Koenig/Pahlke, Abgabenordnung, 2. Aufl., § 108 Rz 3; Kuczynski in Beermann/Gosch, AO § 108 Rz 1). Bei dem Zehnjahreszeitraum des § 14 Abs. 1 Satz 1 ErbStG handelt es sich um eine Frist. Denn "Frist" i.S. des § 108 Abs. 1 AO ist ein abgegrenzter, bestimmter oder jedenfalls bestimmbarer Zeitraum (vgl. BFH-Urteil vom 14.10.2003 IX R 68/98, BFHE 203, 26, BStBl II 2003, 898).
b) Der Zehnjahreszeitraum des § 14 Abs. 1 Satz 1 ErbStG ist ausgehend vom letzten Erwerb rückwärts zu berechnen (vgl. Knobel in Viskorf/Knobel/Schuck, Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz, Bewertungsgesetz, 3. Aufl., § 14 ErbStG Rz 10; Meincke, Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz, Kommentar, 15. Aufl., § 14 Rz 8; Jülicher in Troll/Gebel/ Jülicher, ErbStG, § 14 Rz 7; Geck in Kapp/Ebeling, § 14 ErbStG Rz 59; Weinmann in Moench/Weinmann, § 14 ErbStG Rz 6). § 14 ErbStG regelt die Berechnung der Steuer für den letzten Erwerb. Dieser Erwerb ist Anlass und Ausgangspunkt für die Fristberechnung.
Auf rückwärts zu berechnende Fristen sind die §§ 187 ff. BGB entsprechend anwendbar (vgl. BFH-Urteil vom 6.6.2001 II R 56/00, BFHE 195, 423, BStBl II 2002, 96; Urteil des Bundessozialgerichts vom 22.3.1995 10 Rar 1/94, BSGE 76, 67; Tilman Repgen in Staudinger, BGB, 2009, § 186 Rz 7; Palandt/Ellenberger, Bürgerliches Gesetzbuch, 71. Aufl., § 187 Rz 4; MünchKommBGB/Grohe, 5. Aufl., § 187 Rz 4; Viskorf in Boruttau, Grunderwerbsteuergesetz, 17. Aufl., § 6 Rz 76; Schumacher in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut, UmwStG, § 15 Rz 206; Schießl in Widmann/Mayer, Umwandlungsrecht, § 15 UmwStG Rz 204; Krause, Neue Juristische Wochenschrift 1999, 1448, 1449).
c) Maßgebend für die Berechnung der Frist des § 14 Abs. 1 Satz 1 ErbStG sind § 108 Abs. 1 AO i.V.m. § 187 Abs. 2, § 188 Abs. 2 Alternative 2 BGB.
aa) § 187 BGB unterscheidet für den Fristbeginn, von der Ausnahmeregelung für die Berechnung des Lebensalters abgesehen, zwei Fallgruppen, die nicht im Verhältnis von Regel und Ausnahme zueinander stehen. In § 187 Abs. 1 BGB sind die Fälle geregelt, in denen der Fristbeginn an einen im Verlauf eines Tages liegenden Anfangspunkt anknüpft, d.h. die Fälle, in denen für den Anfang einer Frist ein Ereignis oder ein in den Lauf eines Tages fallender Zeitpunkt entscheidend ist. § 187 Abs. 2 BGB betrifft die übrigen Fälle, d.h. die Fälle, in denen der Beginn des Tages für den Anfang einer Frist maßgebend ist.
Wie danach die Frist zu berechnen ist, ist mithin entscheidend der die Frist im Einzelfall bestimmenden Vorschrift zu entnehmen. Diese Vorschrift ist daraufhin zu prüfen, ob sie den Fristbeginn an ein bestimmtes Ereignis oder an einen in den Lauf eines Tages fallenden Zeitpunkt knüpft oder ob sie den Fristenlauf in anderer Weise regelt (Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 6.7.1972 GmS-OGB 2/71, BVerwGE 40, 363).
bb) § 14 ErbStG regelt die Besteuerung des Letzterwerbs, wenn der Erwerber mehrere Vermögensvorteile "innerhalb von zehn Jahren" erlangt hat. Dieser Zeitraum ist entsprechend § 187 Abs. 2 und § 188 Abs. 2 Alternative 2 BGB zu berechnen. Der Letzterwerb ist nach dem Sinn und Zweck des § 14 Abs. 1 Satz 1 ErbStG kein Ereignis i.S. des § 187 Abs. 1 BGB. Die Einstufung als Ereignis würde dazu führen, den Tag des Letzterwerbs bei der Fristberechnung außer Betracht zu lassen. Dem würde aber widersprechen, dass die Anwendung des § 14 Abs. 1 Satz 1 ErbStG voraussetzt, dass Letzterwerb und Vorerwerb "innerhalb" des Zehnjahreszeitraums liegen. Deshalb umfasst die Frist des § 14 Abs. 1 Satz 1 ErbStG den Tag der Steuerentstehung des letzten Erwerbs (vgl. auch Meincke, a.a.O., § 14 Rz 8). Bei der Berechnung des Zehnjahreszeitraums kommt es nicht auf die genaue Uhrzeit der Erwerbe an; abzustellen ist vielmehr auf volle Kalendertage. Der Zehnjahreszeitraum beginnt demnach - wegen der Rückwärtsberechnung - mit dem Ende des Tages, an dem der letzte Erwerb erfolgt ist.
cc) Das Ende des Zehnjahreszeitraums bestimmt sich analog § 188 Abs. 2 Alternative 2 BGB. Danach endet die Frist in den Fällen des § 187 Abs. 2 BGB mit dem Beginn desjenigen Tages des letzten Monats der Frist, welcher dem Tage nachfolgt, der durch seine Benennung oder seine Zahl dem Anfangstag der Frist entspricht.
dd) Fällt bei dieser Berechnung das Ende des Zehnjahreszeitraums auf einen Sonntag, einen gesetzlichen Feiertag (z.B. den 1. Januar) oder einen Sonnabend, findet § 108 Abs. 3 AO keine Anwendung. Diese Vorschrift gilt zwar sowohl für Fristen im engeren Sinne (eigentliche Fristen) zur Vornahme einer Parteihandlung oder Vorbereitung auf einen Termin als auch für uneigentliche Fristen, für die allein der Ablauf einer bestimmten Zeitspanne entscheidend ist und die den prozessrechtlichen Normen für Fristen unterstehen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 203, 26, BStBl II 2003, 898, zur Dreitagesfrist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO).
Eine Anwendung des § 108 Abs. 3 AO scheidet jedoch nach dem Sinn und Zweck des § 14 ErbStG aus. Danach sollen alle Vermögensvorteile innerhalb von zehn Jahren für Zwecke der Berechnung der Schenkungsteuer für den Letzterwerb zusammengerechnet werden. Dem widerspräche es, einen früheren Erwerb außerhalb des Zehnjahreszeitraums nur deshalb zu berücksichtigen, weil die Frist des § 14 Abs. 1 Satz 1 ErbStG an einem Sonntag, einem gesetzlichen Feiertag oder einem Sonnabend endet und daher bei entsprechender Anwendung der Regelung des § 108 Abs. 3 AO - wegen der Rückwärtsberechnung - auf den Beginn des vorangegangenen Werktages zu verlängern wäre.
d) Im Streitfall ist der Wert des Erwerbs vom 31.12.1998 bei der Berechnung der Schenkungsteuer für den Erwerb vom 31.12.2008 nicht zu berücksichtigen. Der erste Erwerb ist am 31.12.1998 und der letzte Erwerb am 31.12.2008 erfolgt. Eine Grundstücksschenkung ist bereits dann ausgeführt, wenn - wie im Streitfall jeweils am 31.12.1998 bzw. 2008 geschehen - die Auflassung beurkundet worden ist und der Schenker die Eintragung der Rechtsänderung in das Grundbuch bewilligt hat (BFH-Urteil vom 2.2.2005 II R 26/02, BFHE 208, 438, BStBl II 2005, 312, m.w.N.). Die Frist des § 14 Abs. 1 Satz 1 ErbStG begann damit am 31.12.2008 um 24:00 Uhr zu laufen. Sie endete am 1.1.1999 um 00:00 Uhr und damit vor dem Ersterwerb.
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