Die nach niederländischem Recht gegründete Gesellschaft National Grid Indus BV hatte ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in den Niederlanden. Seit 1996 ist sie Inhaberin einer Forderung in Pfund Sterling gegen die National Grid Company plc, eine im Vereinigten Königreich niedergelassene Gesellschaft. Nach einer Steigerung des Kurses des Pfund Sterling gegenüber dem niederländischen Gulden war ein nicht realisierter Kursgewinn bei dieser Forderung entstanden.
Am 15. Dezember 2000 verlegte National Grid Indus ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in das Vereinigte Königreich. Nach einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (Abkommen zwischen dem Königreich der Niederlande und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerhinterziehung im Bereich der Einkommen- und Vermögensteuer) musste National Grid Indus ab der Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes als im Vereinigten Königreich ansässig betrachtet werden. Folglich hörte National Grid Indus auf, in den Niederlanden steuerpflichtigen Gewinn zu erzielen. Infolgedessen erstellten die niederländischen Steuerbehörden nach einer niederländischen Vorschrift eine Schlussrechnung über die latenten Wertzuwächse, die zum Zeitpunkt der Verlegung des Sitzes dieses Unternehmens bestanden, und verlangten sofortige Zahlung.
National Grid Indus wandte sich gegen diese Entscheidung und machte geltend, dass sie gegen den Grundsatz der Niederlassungsfreiheit verstoße.
Der Gerechtshof Amsterdam, der mit dem Rechtsstreit befasst ist, beschloss, diese Frage dem Gerichtshof vorzulegen.
In seinem Urteil vom heutigen Tag bestätigt der Gerichtshof zunächst, dass sich National Grid Indus im vorliegenden Fall auf die Niederlassungsfreiheit berufen kann, um die Entscheidung der niederländischen Steuerbehörden anzufechten.
Außerdem stellt der Gerichtshof fest, dass eine Gesellschaft nach niederländischem Recht, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz aus den Niederlanden wegverlegen will, im Vergleich zu einer ähnlichen Gesellschaft, die ihren Sitz in den Niederlanden belässt, einen Liquiditätsnachteil erleidet. Denn nach der nationalen Regelung zieht die Verlegung des Sitzes einer Gesellschaft nach niederländischem Recht in einen anderen Mitgliedstaat die sofortige Besteuerung der nicht realisierten Wertzuwächse beim verlegten Vermögen nach sich, während solche Wertzuwächse nicht besteuert werden, wenn eine solche Gesellschaft ihren Sitz innerhalb des niederländischen Hoheitsgebiets verlegt. Diese unterschiedliche Behandlung ist geeignet, eine Gesellschaft nach niederländischem Recht davon abzuhalten, ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen, und stellt eine nach den Bestimmungen des Vertrags über die Niederlassungsfreiheit grundsätzlich verbotene Beschränkung dar.
Der Gerichtshof weist aber darauf hin, dass die Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten ein legitimes Ziel ist. Die Mitgliedstaaten bleiben in Ermangelung von unionsrechtlichen Vereinheitlichungs- oder Harmonisierungsmaßnahmen befugt, insbesondere zur Beseitigung der Doppelbesteuerung die Kriterien für die Aufteilung ihrer Steuerhoheit vertraglich oder einseitig festzulegen. Die Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes einer Gesellschaft eines Mitgliedstaats in einen anderen Mitgliedstaat kann nicht bedeuten, dass der Herkunftsmitgliedstaat auf sein Recht zur Besteuerung eines Wertzuwachses, der unter seiner Steuerhoheit vor dieser Verlegung erzielt wurde, verzichten muss. Daher ist die streitige Regelung geeignet, die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den betreffenden Mitgliedstaaten zu gewährleisten.
Zur Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer solchen Regelung ist jedoch zwischen der Festsetzung des Steuerbetrags und seiner Einziehung zu unterscheiden.
– Zur endgültigen Festsetzung des Steuerbetrags zum Zeitpunkt, zu dem die Gesellschaft ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt
Nach Ansicht des Gerichtshofs beachtet der Herkunftsmitgliedstaat den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn er zur Wahrung seiner Steuerhoheit die Steuer endgültig – ohne Berücksichtigung möglicherweise später eintretender Wertminderungen oder Wertzuwächse – festsetzt, die für die in seinem Hoheitsgebiet erzielten, aber nicht realisierten Wertzuwächse zu dem Zeitpunkt geschuldet wird, zu dem seine Besteuerungsbefugnis der betreffenden Gesellschaft gegenüber endet. Die eventuelle Nichtberücksichtigung der Wertminderung durch den Aufnahmemitgliedstaat zum Zeitpunkt der Realisierung des betreffenden Vermögenswerts verpflichtet den Herkunftsmitgliedstaat jedoch keineswegs, zu diesem Zeitpunkt eine Steuerschuld neu zu bewerten, die zum Zeitpunkt, zu dem die Steuerpflichtigkeit der betreffenden Gesellschaft im Herkunftsmitgliedstaat aufgrund der Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes endete, endgültig bestimmt wurde.
Insoweit erinnert der Gerichtshof daran, dass der Vertrag einer Gesellschaft nicht garantiert, dass die Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes in einen anderen Mitgliedstaat steuerneutral ist. Aufgrund der unterschiedlichen Regelungen der Mitgliedstaaten in diesem Bereich kann eine solche Verlegung für eine Gesellschaft je nach dem Einzelfall steuerlich mehr oder weniger vorteilhaft oder nachteilig sein.
– Zur sofortigen Einziehung der Steuer zum Zeitpunkt der Verlegung des Sitzes der Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat
Der Gerichtshof räumt ein, dass sich die Vermögenssituation einer Gesellschaft derart komplex darstellen kann, dass eine präzise grenzüberschreitende Nachverfolgung des Schicksals sämtlicher zum Anlage- und Umlaufvermögen einer Gesellschaft gehörender Gegenstände bis zur Realisierung darin vorhandener latenter Wertzuwächse fast unmöglich ist. Eine solche Nachverfolgung wäre im Übrigen mit einem Aufwand verbunden, der für die betreffende Gesellschaft eine erhebliche oder sogar übermäßige Belastung bedeuten würde.
Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass der Verwaltungsaufwand, den die von der Kommission vorgeschlagene jährliche Erklärung mit sich bringt, die jeden Vermögensgegenstand einbeziehen muss, bei dem zum Zeitpunkt der Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes der betreffenden Gesellschaft ein nicht realisierter Wertzuwachs festgestellt wurde, als solcher für die Gesellschaft eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit mit sich bringt.
Dagegen ermöglichen in anderen Fällen die Art und der Umfang des Gesellschaftsvermögens leicht die grenzüberschreitende Nachverfolgung der Vermögensgegenstände, bei denen zum Zeitpunkt der Verlegung des Sitzes dieser Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat ein Wertzuwachs festgestellt wurde.
Somit würde eine nationale Regelung, die einer Gesellschaft, die ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, die Wahl lässt zwischen einerseits der sofortigen Zahlung des Steuerbetrags, was zu einem Liquiditätsnachteil führt, die Gesellschaft aber vom späteren Verwaltungsaufwand befreit, und andererseits einer Aufschiebung der Zahlung dieses Steuerbetrags, gegebenenfalls zuzüglich Zinsen entsprechend der geltenden nationalen Regelung, was für die betreffende Gesellschaft notwendigerweise einen Verwaltungsaufwand im Zusammenhang mit der Nachverfolgung des verlegten Vermögens mit sich bringt, eine Maßnahme darstellen, die die Niederlassungsfreiheit weniger stark beeinträchtigt als die streitige Maßnahme. Denn wenn eine Gesellschaft meint, dass der Verwaltungsaufwand im Zusammenhang mit der aufgeschobenen Einziehung übermäßig ist, könnte sie sich für die sofortige Zahlung der Steuer entscheiden.
Demzufolge antwortet der Gerichtshof, dass eine Regelung eines Mitgliedstaats, die die sofortige Einziehung der Steuer auf die nicht realisierten Wertzuwächse bei den Vermögensgegenständen einer Gesellschaft, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, zum Zeitpunkt dieser Verlegung vorschreibt, unverhältnismäßig ist.
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