Vorinstanz: Administrativen sad - Veliko Tarnovo (Bulgarien)
Die Art. 65, 90 Abs. 1, 168 Buchst. a, 185 Abs. 1 und 193 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sind dahin auszulegen, dass sie verlangen, dass der Abzug der Mehrwertsteuer, den der Empfänger einer für eine Anzahlung auf eine Lieferung von Gegenständen ausgestellten Rechnung vorgenommen hat, berichtigt wird, wenn diese Lieferung unter Umständen wie jenen des Ausgangsverfahrens letztlich nicht bewirkt wird, auch wenn der Lieferer zur Entrichtung dieser Steuer verpflichtet bleiben sollte und die Anzahlung nicht zurückgezahlt haben sollte.
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 65, 90 Abs. 1, 168 Buchst. a, 185 Abs. 1, 193 und 205 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der FIRIN OOD (im Folgenden: FIRIN) und dem Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“ – Veliko Tarnovo pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite (Direktor der Direktion „Anfechtung und Steuer- und Sozialversicherungspraxis“ Veliko Tarnovo bei der Zentralverwaltung der Nationalen Agentur für Einnahmen, im Folgenden: Direktor) wegen der Versagung des Rechts, die Mehrwertsteuer auf die Anzahlung, die diese Gesellschaft auf Mehllieferungen geleistet hat, als Vorsteuer in Form einer Steuergutschrift abzuziehen.
Unionsrecht
3 Nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und c der Richtlinie 2006/112 unterliegen Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt bzw. erbringt, der Mehrwertsteuer.
4 Art. 14 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:
„Als ‚Lieferung von Gegenständen‘ gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.“
5 Nach Art. 63 der Richtlinie treten Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird.
6 Art. 65 der Richtlinie bestimmt:
„Werden Anzahlungen geleistet, bevor die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht ist, entsteht der Steueranspruch zum Zeitpunkt der Vereinnahmung entsprechend dem vereinnahmten Betrag.“
7 Art. 90 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:
„Im Falle der Annullierung, der Rückgängigmachung, der Auflösung, der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung oder des Preisnachlasses nach der Bewirkung des Umsatzes wird die Steuerbemessungsgrundlage unter den von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen entsprechend vermindert.“
8 Gemäß Art. 167 der Richtlinie entsteht das Recht auf Vorsteuerabzug, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.
9 Artikel 168 der Richtlinie bestimmt:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;
...“
10 Art. 178 der Richtlinie sieht vor:
„Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:
a) für den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 Buchstabe a in Bezug auf die Lieferungen von Gegenständen und [das] Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß den Artikeln 220 bis 236 sowie 238, 239 und 240 ausgestellte Rechnung besitzen;
...“
11 Nach Art. 184 der Richtlinie 2006/112 wird der ursprüngliche Vorsteuerabzug berichtigt, wenn der Vorsteuerabzug höher oder niedriger ist als der, zu dessen Vornahme der Steuerpflichtige berechtigt war.
12 Art. 185 der Richtlinie lautet:
„(1) Die Berichtigung erfolgt insbesondere dann, wenn sich die Faktoren, die bei der Bestimmung des Vorsteuerabzugsbetrags berücksichtigt werden, nach Abgabe der Mehrwertsteuererklärung geändert haben, zum Beispiel bei rückgängig gemachten Käufen oder erlangten Rabatten.
(2) Abweichend von Absatz 1 unterbleibt die Berichtigung bei Umsätzen, bei denen keine oder eine nicht vollständige Zahlung geleistet wurde, in ordnungsgemäß nachgewiesenen oder belegten Fällen von Zerstörung, Verlust oder Diebstahl sowie bei Entnahmen für Geschenke von geringem Wert und Warenmuster im Sinne des Artikels 16.
Bei Umsätzen, bei denen keine oder eine nicht vollständige Zahlung erfolgt, und bei Diebstahl können die Mitgliedstaaten jedoch eine Berichtigung verlangen.“
13 Gemäß Art. 186 der Richtlinie 2006/112 legen die Mitgliedstaaten die Einzelheiten für die Anwendung der Art. 184 und 185 dieser Richtlinie fest.
14 Art. 193 der Richtlinie bestimmt:
„Die Mehrwertsteuer schuldet der Steuerpflichtige, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt, außer in den Fällen, in denen die Steuer gemäß den Artikeln 194 bis 199 sowie 202 von einer anderen Person geschuldet wird.“
15 Gemäß Art. 203 der Richtlinie 2006/112 wird die Mehrwertsteuer von jeder Person geschuldet, die diese Steuer in einer Rechnung ausweist.
16 Art. 205 der Richtlinie lautet:
„In den in den Artikeln 193 bis 200 sowie 202, 203 und 204 genannten Fällen können die Mitgliedstaaten bestimmen, dass eine andere Person als der Steuerschuldner die Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat.“
Bulgarisches Recht
17 Nach Art. 70 Abs. 5 des Zakon za danak varhu dobavenata stoynost (Mehrwertsteuergesetz) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (DV Nr. 63 vom 4. August 2006, im Folgenden: ZDDS) besteht kein Recht auf Vorsteuerabzug, wenn die Mehrwertsteuer zu Unrecht in Rechnung gestellt wurde.
18 Art. 177 ZDDS bestimmt:
„(1) Die registrierte Person, die Empfänger einer steuerpflichtigen Lieferung oder Dienstleistung ist, haftet für die von einer anderen registrierten Person geschuldete und nicht gezahlte Steuer, soweit sie vom Recht auf Abzug der Vorsteuer, die in unmittelbarem oder mittelbarem Zusammenhang mit der geschuldeten und nicht gezahlten Steuer steht, Gebrauch gemacht hat.
(2) Die Haftung nach Abs. 1 tritt ein, wenn die registrierte Person wusste oder hätte wissen müssen, dass die Steuer nicht gezahlt werden wird, und dies von der Prüfungsbehörde gemäß den Art. 117 bis 120 des Danachno-osiguritelen protsesualen kodex (Steuer- und Sozialversicherungsverfahrensordnung) bewiesen wird.
(3) Für die Zwecke des Abs. 2 wird angenommen, dass die Person Kenntnis hätte haben müssen, wenn die folgenden Voraussetzungen kumulativ vorliegen:(4) Die Haftung nach Abs. 1 ist nicht an die Erlangung eines bestimmten Vorteils aufgrund der Nichtzahlung der geschuldeten Steuer geknüpft.
- Die geschuldete Steuer nach Abs. 1 wurde von keinem der vorgelagerten Lieferer oder Dienstleistungserbringer, die mit demselben Gegenstand oder derselben Dienstleistung, gleichviel ob in derselben, einer veränderten oder einer verarbeiteten Form, einen steuerpflichtigen Umsatz bewirkt haben, effektiv als Ergebnis für einen Steuerzeitraum gezahlt;
- der steuerpflichtige Umsatz erfolgt nur dem Anschein nach, umgeht das Gesetz oder erfolgt zu einem sich vom Marktpreis erheblich unterscheidenden Preis.
(5) Unter den Voraussetzungen gemäß Abs. 2 und 3 haftet auch ein Lieferer oder Dienstleistungserbringer, der dem Steuerpflichtigen, der die nicht gezahlte Steuer schuldet, vorgelagert ist.
(6) In den Fällen der Abs. 1 und 2 trifft die Haftung den Steuerpflichtigen, der unmittelbarer Empfänger der Lieferung oder Dienstleistung ist, für die die geschuldete Steuer nicht gezahlt wurde, und bei Erfolglosigkeit der Beitreibung kann jeder nachgelagerte Empfänger in der Lieferkette haftbar gemacht werden.
(7) Abs. 6 gilt entsprechend für die nachgelagerten Lieferer oder Dienstleistungserbringer.“
19 FIRIN, die Rechtsnachfolgerin von Hlebozavod Korn, ist eine Gesellschaft bulgarischen Rechts, die Brot und Konditorware herstellt und damit handelt. Ihr Kapital halten zu 99 % die Gesellschaft York Skay EOOD (im Folgenden: York Skay) und zu 1 % Herr Yorkishev.
20 Ende 2010 bestellte FIRIN 10 000 Tonnen Weizen bei der Agra Plani EOOD (im Folgenden: Agra Plani), einer Gesellschaft, an der Herr Yorkishev 100 % der Anteile hält. Für diesen im Voraus zu zahlenden Umsatz stellte Agra Plani am 29. November 2010 eine Rechnung über 3 600 000 bulgarische Leva (BGN) aus, in der eine geschuldete Mehrwertsteuer in Höhe von 600 000 BGN ausgewiesen wurde.
21 Infolge einer Steuerprüfung stellte die bulgarische Steuerverwaltung den Abzug des Betrags von 600 000 BGN, den FIRIN in ihren Mehrwertsteuererklärungen für den Zeitraum November/Dezember 2010 vorgenommen hatte, in Frage.
22 Die Steuerverwaltung begründete diese Infragestellung damit, dass die Leistung nicht erbracht worden sei und die Rechnung vom 29. November 2010 Teil eines Steuerhinterziehungssystems sei, das die Steuerprüfung ans Licht gebracht habe. Mangels Registrierung beim nationalen Getreideamt sei nämlich Agra Plani nach nationalem Recht nicht berechtigt gewesen, Getreidehandel zu betreiben, was FIRIN hätte wissen müssen. Außerdem wurde der Gesamtbetrag der am 30. November 2010 von FIRIN an Agra Plani geleisteten Zahlungen in Höhe von 4 170 000 BGN, somit ein höherer als der nach der Rechnung geschuldete Betrag, am selben Tag auf das Konto von York Skay überwiesen. Ebenfalls am selben Tag wurde der Betrag von 3 600 000 BGN von York Skay auf das Bankkonto von FIRIN überwiesen.
23 Mangels triftiger Rechtfertigungen ließ die Steuerverwaltung die Erklärungen von FIRIN zum Charakter dieser Kontobewegungen nicht gelten, wonach die erste Kontobewegung auf ein Darlehen von Agra Plani an York Skay und die zweite auf eine zusätzliche Kapitaleinlage bei FIRIN zurückzuführen sei.
24 Am 26. September 2011 wurde aufgrund dieser Steuerprüfung ein Steuerprüfungsbescheid erlassen. FIRIN legte gegen diesen Bescheid Einspruch beim Direktor ein. Mit Entscheidung vom 16. Januar 2012 bestätigte der Direktor den Bescheid.
25 FIRIN erhob daraufhin beim vorlegenden Gericht Klage gegen die den Bescheid bestätigende Entscheidung des Direktors und machte geltend, dass sie alle Voraussetzungen erfülle, um den Betrag von 600 000 BGN als Vorsteuer abziehen zu dürfen, und dass die Gründe für die Versagung dieses Vorsteuerabzugs auf Umstände, darunter auch den fiktiven Charakter des Umsatzes, Bezug nähmen, die nicht für die Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug, sondern für die Auslösung ihrer Haftung für die von ihrer Lieferantin nicht gezahlte Mehrwertsteuer relevant seien.
26 In diesem Zusammenhang fragt sich das vorlegende Gericht, ob das Recht auf Vorsteuerabzug in einem Fall gewährt werden kann, in dem die vorgesehene Leistung aus verschiedenen Gründen nicht erbracht werden konnte, und ob eine spätere Berichtigung möglich bleibt. Es stellt sich auch die Frage, ob das nationale System der gesamtschuldnerischen Haftung für die Entrichtung der Mehrwertsteuer mit dem Unionsrecht vereinbar ist.
27 Unter diesen Umständen hat der Administrativen sad Veliko Tarnovo beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Zur Zulässigkeit
28 Mit seinen Fragen möchte das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Auslegung von Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 ersuchen, die zwei unterschiedliche Gesichtspunkte der Mehrwertsteuerregelung betreffen, und zwar zum einen den Gesichtspunkt des Rechts auf Vorsteuerabzug und zum anderen den Gesichtspunkt der in Art. 205 dieser Richtlinie vorgesehenen gesamtschuldnerischen Haftung eines Steuerpflichtigen für die von einem Dritten geschuldete Steuer.
29 Nach ständiger Rechtsprechung ist das in Art. 267 AEUV vorgesehene Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen (vgl. u. a. Urteil vom 19. Dezember 2013, Fish Legal und Shirley, C‑279/12, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 29).
30 Im Rahmen dieser Zusammenarbeit spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann das Ersuchen eines nationalen Gerichts nur zurückweisen, wenn die erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. u. a. Urteil Fish Legal und Shirley, Rn. 30).
31 Zwar steht fest, dass der Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens die Infragestellung des Rechts von FIRIN auf Vorsteuerabzug betrifft, doch geht aus der Entscheidung des vorlegenden Gerichts hervor, dass die bulgarische Steuerverwaltung nicht der Ansicht war, FIRIN hafte gesamtschuldnerisch für die Entrichtung der von Agra Plani geschuldeten Steuer.
32 Soweit der entsprechende Teil der dritten Frage und die vierte Frage des vorlegenden Gerichts, die eine Auslegung von Art. 205 der Richtlinie 2006/112 bezwecken, den Umfang einer solchen gesamtschuldnerischen Haftung betreffen, stehen sie daher offensichtlich in keinem Zusammenhang mit dem Streitgegenstand des Ausgangsverfahrens und sind folglich für unzulässig zu erklären.
Zur Begründetheit
33 Mit seinen Fragen zur Vorsteuerabzugsregelung, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 65, 90 Abs. 1, 168 Buchst. a, 185 Abs. 1 und 193 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen sind, dass der Abzug der Mehrwertsteuer, den der Empfänger einer für eine Anzahlung auf eine Lieferung von Gegenständen ausgestellten Rechnung vorgenommen hat, berichtigt werden muss, wenn diese Lieferung unter Umständen wie jenen des Ausgangsverfahrens letztlich nicht bewirkt wird, auch wenn der Lieferer zur Entrichtung dieser Steuer verpflichtet bleiben sollte und die Anzahlung nicht zurückgezahlt haben sollte.
34 Gemäß Art. 167 der Richtlinie 2006/112 entsteht das Recht auf Vorsteuerabzug, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht, und nach Art. 63 dieser Richtlinie treten Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird.
35 Art. 65 der Richtlinie 2006/112, wonach dann, wenn Anzahlungen geleistet werden, bevor die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht ist, der Steueranspruch zum Zeitpunkt der Vereinnahmung entsprechend dem vereinnahmten Betrag entsteht, stellt eine Ausnahme von der Regel des Art. 63 dar und muss als solche eng ausgelegt werden (Urteil vom 21. Februar 2006, BUPA Hospitals und Goldsborough Developments, C‑419/02, Slg. 2006, I‑1685, Rn. 45).
36 Damit der Steueranspruch unter solchen Umständen entstehen kann, ist erforderlich, dass alle maßgeblichen Elemente des Steuertatbestands, d. h. der künftigen Lieferung oder der künftigen Dienstleistung, bereits bekannt und somit insbesondere die Gegenstände oder die Dienstleistungen zum Zeitpunkt der Anzahlung genau bestimmt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil BUPA Hospitals und Goldsborough Developments, Rn. 48).
37 Es ist zu prüfen, ob dies im Ausgangsverfahren der Fall ist, damit festgestellt werden kann, dass das von FIRIN auf der Grundlage der betreffenden Anzahlung ausgeübte Recht auf Vorsteuerabzug besteht.
38 Hierzu ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass die Gegenstände, die geliefert werden sollten, klar bestimmt waren, als FIRIN die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Anzahlung geleistet hat.
39 Wie allerdings die Generalanwältin in Nr. 24 ihrer Schlussanträge hervorgehoben hat, kann Art. 65 der Richtlinie 2006/112 keine Anwendung finden, wenn der Eintritt des Steuertatbestands zum Zeitpunkt der Anzahlung unsicher ist. Dies wäre insbesondere bei betrügerischem Verhalten der Fall.
40 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ein Ziel ist, das von der Richtlinie 2006/112 anerkannt und gefördert wird. Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass sich die Rechtsbürger nicht auf die Bestimmungen des Unionsrechts berufen können, wenn sie dies in betrügerischer oder missbräuchlicher Absicht tun. Daher haben die nationalen Behörden und Gerichte den Vorteil des Rechts auf Vorsteuerabzug zu versagen, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Dezember 2012, Bonik, C-285/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 35 bis 37).
41 Dies ist der Fall, wenn der Steuerpflichtige selbst eine Steuerhinterziehung begeht. Denn in diesem Fall sind die objektiven Kriterien, auf denen die Begriffe der Lieferung von Gegenständen bzw. der Erbringung von Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher bewirkt, und der Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeit beruhen, nicht erfüllt (Urteil Bonik, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Hingegen ist es mit der Vorsteuerabzugsregelung der Richtlinie 2006/112 nicht vereinbar, einen Steuerpflichtigen, der weder wusste noch wissen konnte, dass der betreffende Umsatz in eine vom Lieferer begangene Steuerhinterziehung einbezogen war oder dass in der Lieferkette bei einem anderen Umsatz, der dem vom Steuerpflichtigen getätigten Umsatz vorausging oder nachfolgte, Mehrwertsteuer hinterzogen wurde, durch die Versagung dieses Rechts mit einer Sanktion zu belegen (Urteil Bonik, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Die Einführung eines solchen Sanktionssystems ginge nämlich über das hinaus, was erforderlich ist, um die Ansprüche des Fiskus zu schützen (vgl. in diesem Sinne Urteil Bonik, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Da die Versagung des Vorsteuerabzugsrechts eine Ausnahme vom Grundprinzip ist, das dieses Recht darstellt, obliegt es folglich den zuständigen Steuerbehörden, die objektiven Umstände, die den Schluss zulassen, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung dieses Rechts geltend gemachte Umsatz in eine vom Lieferer oder von einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden Umsatzstufe der Lieferkette begangene Steuerhinterziehung einbezogen war, rechtlich hinreichend nachzuweisen (Urteil Bonik, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
45 Der Gerichtshof ist jedoch im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV nicht befugt, den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens zu überprüfen oder zu würdigen. Daher ist es Sache des nationalen Gerichts, gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts alle Gesichtspunkte und tatsächlichen Umstände der Rechtssache umfassend zu beurteilen (vgl. u. a. Urteil Bonik).
46 Somit ist es allein Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob die betreffenden Steuerbehörden die objektiven Gesichtspunkte nachgewiesen haben, auf die sie das Ergebnis stützen, dass FIRIN wusste oder hätte wissen müssen, dass die an ihre Lieferantin geleistete Anzahlung in Wirklichkeit nicht die in der von der Lieferantin ausgestellten Rechnung genannte Lieferung von Waren zum Gegenstand hatte.
47 Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, sind jedoch die Fragen zu den Voraussetzungen der Berichtigung der von FIRIN abgezogenen Mehrwertsteuer zu prüfen, und zwar für den Fall, dass das Gericht am Ende der ihm obliegenden Beurteilung zu dem Ergebnis kommt, dass alle maßgeblichen Elemente der künftigen Lieferung als der Gesellschaft bereits zum Zeitpunkt der Anzahlung bekannt angesehen werden konnten und diese Lieferung daher offenbar nicht unsicher war.
48 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Art. 184 bis 186 der Richtlinie 2006/112 die Voraussetzungen festlegen, unter denen die Steuerverwaltung eine Berichtigung durch einen Steuerpflichtigen verlangen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Oktober 2012, TETS Haskovo, C‑234/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 26).
49 Zur Frage, ob sich Ereignisse, die nach dem von einem Steuerpflichtigen vorgenommenen Vorsteuerabzug eingetreten sind, auf diesen auswirken können, geht aus der Rechtsprechung hervor, dass die tatsächliche oder beabsichtigte Verwendung der Gegenstände oder Dienstleistungen den Umfang des ursprünglichen Vorsteuererstabzugs bestimmt, zu dem der Steuerpflichtige befugt ist, und den Umfang etwaiger Berichtigungen während der darauffolgenden Zeiträume, die unter den Voraussetzungen der Art. 184 bis 186 vorzunehmen sind (Urteil TETS Haskovo, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
50 Der in diesen Artikeln vorgesehene Berichtigungsmechanismus ist nämlich Bestandteil der mit der Richtlinie 2006/112 eingeführten Vorsteuerabzugsregelung. Er soll die Genauigkeit der Vorsteuerabzüge in der Weise erhöhen, dass die Neutralität der Mehrwertsteuer gewährleistet wird, so dass die auf einer früheren Stufe bewirkten Umsätze weiterhin nur insoweit zum Abzug berechtigen, als sie der Erbringung von Leistungen dienen, die dieser Steuer unterliegen. Dieser Mechanismus verfolgt somit das Ziel, einen engen und unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Vorsteuerabzugsrecht und der Nutzung der betreffenden Gegenstände und Dienstleistungen für besteuerte Ausgangsumsätze herzustellen (Urteil TETS Haskovo, Rn. 30 und 31).
51 Was die Entstehung einer etwaigen Verpflichtung zur Berichtigung des Vorsteuerabzugs betrifft, stellt Art. 185 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 den Grundsatz auf, dass eine solche Berichtigung insbesondere dann zu erfolgen hat, wenn sich die Faktoren, die bei der Bestimmung des Vorsteuerabzugsbetrags berücksichtigt werden, nach Abgabe der Mehrwertsteuererklärung geändert haben (Urteil TETS Haskovo, Rn. 32).
52 In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem die Lieferung der Gegenstände, für die FIRIN eine Anzahlung geleistet hat, den Angaben des vorlegenden Gerichts zufolge nicht bewirkt werden wird, ist mit der Generalanwältin in Nr. 35 ihrer Schlussanträge festzustellen, dass sich die Faktoren, die bei der Bestimmung des Vorsteuerabzugsbetrags berücksichtigt werden, nach Abgabe der Mehrwertsteuererklärung geändert haben. Somit kann die Steuerverwaltung in einem solchen Fall verlangen, dass der Steuerpflichtige die abgezogene Mehrwertsteuer berichtigt.
53 Diese Schlussfolgerung kann nicht dadurch in Frage gestellt werden, dass die vom Lieferer geschuldete Mehrwertsteuer selbst nicht berichtigt werden wird.
54 Hinsichtlich der Mehrwertsteuer, die aufgrund des Nichtvorliegens eines steuerpflichtigen Umsatzes zu Unrecht in Rechnung gestellt wurde, ergibt sich nämlich aus der Richtlinie 2006/112, dass die beiden beteiligten Wirtschaftsteilnehmer nicht notwendigerweise gleichbehandelt werden. Zum einen schuldet der Aussteller einer Rechnung die darin ausgewiesene Mehrwertsteuer gemäß Art. 203 der Richtlinie 2006/112 auch, wenn kein steuerpflichtiger Umsatz vorliegt. Zum anderen ist die Ausübung des Rechts des Rechnungsempfängers auf Vorsteuerabzug nach Art. 63 in Verbindung mit Art. 167 dieser Richtlinie auf die Steuern beschränkt, die auf einen mehrwertsteuerpflichtigen Umsatz entfallen (Urteil vom 31. Januar 2013, LVK – 56, C‑643/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 46 und 47).
55 In einer solchen Situation wird der Grundsatz der steuerlichen Neutralität durch die von den Mitgliedstaaten vorzusehende Möglichkeit gewahrt, jede zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer zu berichtigen, wenn der Rechnungsaussteller seinen guten Glauben nachweist oder wenn er die Gefährdung des Steueraufkommens rechtzeitig und vollständig beseitigt hat (Urteil LVK – 56, Rn. 48).
56 Im Übrigen kann – wie die Generalanwältin in Nr. 43 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat –, solange unter Umständen wie jenen des Ausgangsverfahrens die Anzahlung vom Lieferer nicht zurückgezahlt worden ist, die Bemessungsgrundlage der von ihm aufgrund der Vereinnahmung dieser Anzahlung geschuldeten Steuer nicht nach Art. 65 in Verbindung mit Art. 90 und Art. 193 der Richtlinie 2006/112 vermindert werden (vgl. in diesem Sinne zur Berichtigung der Steuerbemessungsgrundlage im Fall von Rückvergütungen Urteil vom 29. Mai 2001, Freemans, C‑86/99, Slg. 2001, I‑4167, Rn. 35).
57 Unter diesen Voraussetzungen und unbeschadet des Rechts des Steuerpflichtigen, in den einschlägigen Verfahren des nationalen Rechts von seinem Lieferer die Rückzahlung der Anzahlung zu erlangen, die er für die letztlich nicht bewirkte Lieferung von Gegenständen geleistet hat, ändert der Umstand, dass die von diesem Lieferer geschuldete Mehrwertsteuer selbst nicht berichtigt werden wird, nichts am Recht der Steuerverwaltung, die Rückerstattung der Mehrwertsteuer zu verlangen, die von dem Steuerpflichtigen aufgrund der für diese Lieferung geleisteten Anzahlung in Abzug gebracht wurde.
58 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Art. 65, 90 Abs. 1, 168 Buchst. a, 185 Abs. 1 und 193 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen sind, dass sie verlangen, dass der Abzug der Mehrwertsteuer, den der Empfänger einer für eine Anzahlung auf eine Lieferung von Gegenständen ausgestellten Rechnung vorgenommen hat, berichtigt wird, wenn diese Lieferung unter Umständen wie jenen des Ausgangsverfahrens letztlich nicht bewirkt wird, auch wenn der Lieferer zur Entrichtung dieser Steuer verpflichtet bleiben sollte und die Anzahlung nicht zurückgezahlt haben sollte.
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