EStG § 68 Abs. 1, § 70 Abs. 2
AO § 169 Abs. 1 und Abs. 2, § 171 Abs. 7, § 174 Abs. 2, § 378, § 384
FVG § 5 Abs. 1 Nr. 11
Vorinstanz: Schleswig-Holsteinisches FG vom 17.6.2015, 1 K 213/14 (EFG 2015 S. 1818 = SIS 15 22 18)
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist seit Mai 1995 als Lehrkraft beim Land Schleswig-Holstein beschäftigt. Er war zunächst zeitlich befristet im Angestelltenverhältnis tätig und wurde mit Wirkung zum 1.11.1999 verbeamtet. Er ist verheiratet und Vater der im Februar 1996 ehelich geborenen Tochter A. Die beklagte und revisionsbeklagte Familienkasse des Arbeitsamtes (Familienkasse) bewilligte Kindergeld, das der Kläger im Februar 1996 mit Zustimmung seiner Ehefrau beantragt hatte. Dabei ging die Familienkasse aufgrund einer telefonischen Mitteilung der Gattin des Klägers davon aus, dass der Zeitvertrag des Klägers mit dem Land Schleswig-Holstein zum 31.3.1996 auslaufen würde. Tatsächlich wurde das Arbeitsverhältnis des Klägers jedoch verlängert.
Im Anschluss an seine Verbeamtung erhielt der Kläger Kindergeld für A auch vom Dienstherrn. Diese Zahlungen wurden in den jeweiligen Gehaltsbescheinigungen aufgeführt und erfolgten nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) ohne Antrag des Klägers und ohne formelle Kindergeldfestsetzung. Eine vom Kläger im November 2000 beim Dienstherrn eingereichte Erklärung zum Familienzuschlag enthielt unter der Rubrik "Kinder" Angaben zum Namen und zum Geburtsdatum der Tochter, zum Kindschaftsverhältnis und zur Zahlung des Kindergeldes an den Kläger.
Die Verbeamtung des Klägers blieb der Familienkasse unbekannt. Sie zahlte weiterhin Kindergeld für A, so dass der Kläger dieses ab November 1999 zweifach vereinnahmte. Die Doppelzahlungen wurden erst im August 2008 durch einen vom Bundesrechnungshof initiierten Datenabgleich aufgedeckt und sowohl dem Dienstherrn als auch der Familienkasse zur Kenntnis gebracht.
Die Familienkasse stellte ihre Zahlungen ab September 2008 ein. Sie hob mit Bescheid vom 12.11.2009 die Festsetzung des Kindergeldes gemäß § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) für den Zeitraum von November 1999 bis August 2008 auf und forderte die Rückerstattung überzahlten Kindergeldes in Höhe von 15.888,84 €.
Der Kläger zahlte auf den geltend gemachten Erstattungsanspruch für den Zeitraum Januar 2005 bis August 2008 insgesamt 6.776 €. Wegen der Kindergeldaufhebung und Rückforderung für den Zeitraum November 1999 bis Dezember 2004 legte er Einspruch ein, den er u.a. mit Verjährung begründete.
Die Familienkasse wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 30.8.2010 zurück. Sie stützte die Kindergeldaufhebung verfahrensrechtlich auf § 174 Abs. 2 i.V.m. § 174 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) und ging von einer vorsätzlichen Steuerhinterziehung durch den Kläger aus, so dass die 10-jährige Verjährungsfrist einschlägig sei.
Die Klage blieb ohne Erfolg. Nachdem das Verfahren bis zum Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 11.12.2013 XI R 42/11 (BFHE 244, 302, BStBl II 2014, 840) geruht hatte, entschied das FG, der 1996 ergangene Festsetzungsbescheid sei durch Wegfall der sachlichen Zuständigkeit der Familienkasse rechtswidrig geworden (Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 2015, 1818). Die Familienkasse habe den Bescheid nach § 70 Abs. 2 EStG ändern können. Deshalb könne dahinstehen, ob einer Aufhebung gemäß § 174 Abs. 2 Satz 1 AO entgegenstehe, dass sich keine doppelte Kindergeldfestsetzung und kein Kindergeldantrag des Klägers gegenüber der Familienkasse des Dienstherrn feststellen lasse. Festsetzungsverjährung sei auch dann nicht eingetreten, wenn dem Kläger keine Steuerhinterziehung (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO), sondern nur eine leichtfertige Steuerverkürzung zur Last gelegt würde, da diese erst fünf Jahre nach der letzten Auszahlung im August 2008 verjähre (§ 384 AO).
Zur Begründung seiner Revision trägt der Kläger vor, die Zuständigkeiten der Familienkassen hätten i.S. des § 70 Abs. 2 EStG keinen Einfluss auf den Anspruch des Kindergeldberechtigten; die Verbeamtung habe seinen Kindergeldanspruch nicht entfallen lassen. Das FG sei auch zu Unrecht von einer verlängerten Festsetzungsfrist ausgegangen, denn gegen ihn sei kein Straf- oder Bußgeldverfahren eingeleitet worden. Da die Verbeamtung die Anspruchsvoraussetzungen für den Kindergeldanspruch (§§ 62 bis 65 EStG) unberührt lasse, habe auch keine Offenbarungspflicht i.S. des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO bestanden.
Der Kläger beantragt sinngemäß, den Aufhebungsbescheid vom 12.11.2009, soweit er den Zeitraum November 1999 bis Dezember 2004 betrifft, die Einspruchsentscheidung und das FG-Urteil aufzuheben.
Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision ist unbegründet. Das FG hat zu Recht entschieden, dass die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für den streitigen Zeitraum aufheben konnte.
1. Die Familienkasse durfte die Festsetzung des Kindergeldes nach § 70 Abs. 2 EStG aufheben.
a) Der Familienleistungsausgleich nach Maßgabe der §§ 31, 62 bis 78 EStG obliegt gemäß § 16 AO i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes (FVG) dem Bundeszentralamt für Steuern (vormals Bundesamt für Finanzen) und wird durch die Dienststellen der Bundesagentur für Arbeit (Bundesagentur, vormals Bundesanstalt für Arbeit) als Familienkassen durchgeführt. Diese Dienststellen sind indessen sachlich nicht zuständig, wenn gemäß § 72 EStG eine Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts oder die Deutsche Post AG, Deutsche Postbank AG oder Deutsche Telekom AG als Familienkasse das Kindergeld an Angehörige des öffentlichen Dienstes festzusetzen und zu zahlen haben (Senatsurteil vom 19.1.2017 III R 31/15, BFHE 256, 502, BStBl II 2017, 642; Senatsbeschluss vom 28.12.2006 III B 91/05, BFH/NV 2007, 864). Davon geht auch die Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz (DA-KG) 2014 aus (unter V.1.1). Durch den Eintritt oder das Ausscheiden des Kindergeldberechtigten aus dem öffentlichen Dienst ändert sich mithin die sachliche Zuständigkeit für die Kindergeldfestsetzung.
Wenn die sachlich zuständige Familienkasse danach durch Eintritt des Kindergeldberechtigten in den öffentlichen Dienst wechselt, kann die bisherige Kindergeldfestsetzung aufgehoben und das Kindergeld von der zuständig gewordenen Familienkasse neu festgesetzt werden. Stattdessen kann sich die zuständig gewordene Behörde aber auch die bisherige Festsetzung zu Eigen machen und die Kindergeldzahlung auf Grundlage des Bescheids der zuvor zuständigen Familienkasse fortführen (Senatsurteil vom 25.9.2014 III R 25/13, BFHE 247, 233, BStBl II 2015, 847).
b) Der Wechsel der sachlichen Zuständigkeit der für die Kindergeldgewährung zuständigen Behörde, d.h. der Übergang der Verpflichtung von einem auf einen anderen Rechtsträger, ist eine i.S. des § 70 Abs. 2 EStG für den Anspruch auf Kindergeld erhebliche Änderung. Die Familienkasse konnte deshalb die Kindergeldfestsetzung mit Wirkung ab November 1999 aufheben.
Dem steht nicht entgegen, dass beim Wechsel der sachlichen Zuständigkeit nicht zwingend ein neuer Bescheid ergehen muss, sondern - was im Streitfall allerdings nicht geschehen ist - die zuständig gewordene Familienkasse aus Vereinfachungsgründen aufgrund des bisherigen Bescheids leisten kann, wenn sie den Kindergeldberechtigten schriftlich darauf hinweist, dass sie als nunmehr zuständige Familienkasse das Kindergeld in der bisher festgesetzten Höhe unverändert auszahlt und die ursprünglich zuständige Familienkasse sachlich unzuständig geworden ist und deshalb die Kindergeldzahlungen einstellt (vgl. DA-KG 2016 unter V.3.2 Abs. 2).
c) Im Hinblick auf die hier streitige Aufhebung nach § 70 Abs. 2 EStG ab November 1999 kann dahinstehen, ob die Familienkasse des Dienstherrn erst mit der Verbeamtung des Klägers zuständig wurde oder bereits zu einem früheren Zeitpunkt, weil sie auch für Angestellte im öffentlichen Dienst, die länger als voraussichtlich sechs Monate beschäftigt sind, zuständig war (vgl. § 72 Abs. 4 EStG).
Die Aufhebung nach § 70 Abs. 2 EStG ist zwar "mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse" vorzunehmen, d.h. auch rückwirkend. Daraus ergibt sich indessen nicht, dass eine Aufhebung zu einem späteren Zeitpunkt als dem der "Änderung der Verhältnisse" ausgeschlossen ist. Denn die Befugnis der Familienkasse zur Aufhebung der Kindergeldfestsetzung verbraucht sich nicht, wenn sie - z.B. wegen Festsetzungsverjährung, wegen eines nicht zweifelsfrei aufklärbaren Sachverhalts oder einer unklaren Rechtslage - erst zu einem späteren Monat neu bescheidet. Daher hätte eine Zuständigkeitsänderung zu einem früheren Zeitpunkt jedenfalls auch zur Aufhebung der Kindergeldfestsetzung durch die beklagte Familienkasse für den hier streitigen Zeitraum ab November 1999 geführt.
2. Da die Festsetzung nach § 70 Abs. 2 EStG aufgehoben werden konnte, kann dahinstehen, ob oder von welchem Zeitpunkt an die Aufhebung auch auf § 174 Abs. 2 AO gestützt werden konnte, weil Erklärungen des Klägers zum Familienzuschlag auch i.S. von § 174 Abs. 2 Satz 2 AO als "Antrag oder ... Erklärung" zur Kindergeldfestsetzung zu werten wären.
3. Das FG hat auch zu Recht entschieden, dass die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung nicht durch Festsetzungsverjährung (§ 169 Abs. 1 Satz 1 AO) ausgeschlossen war.
a) Das FG hat zutreffend festgestellt, dass der Kläger nach § 68 Abs. 1 Alternative 1 EStG verpflichtet war, der Familienkasse Veränderungen in den für die Leistung erheblichen Verhältnissen unverzüglich mitzuteilen.
Der Kläger hatte in seinem im Februar 1996 an die Familienkasse gerichteten Antrag die Frage nach anderweitig erhaltenem Kindergeld verneint. Deshalb war er nach der Aufnahme der Kindergeldzahlungen durch den Dienstherrn verpflichtet, diese Veränderung anzuzeigen, weil er darüber eine Erklärung abgegeben hatte (§ 68 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 EStG).
b) Der Kläger hat durch den zweifachen Bezug von Kindergeld, das als Steuervergütung gewährt wird (§ 31 Satz 3 EStG), nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt. Denn er hatte die Familienkasse über seine Verbeamtung im November 1999 pflichtwidrig in Unkenntnis gelassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO). Er handelte nach den Feststellungen des FG auch leichtfertig, so dass der Tatbestand der leichtfertigen Steuerverkürzung nach § 378 AO erfüllt ist. Insoweit ist unerheblich, dass gegen ihn kein Straf- oder Bußgeldverfahren eingeleitet wurde. Denn die Frage, ob Steuerbeträge leichtfertig verkürzt wurden, ist von den Finanzbehörden und Finanzgerichten in eigener Zuständigkeit zu entscheiden (Beschluss des Großen Senats des BFH vom 5.3.1979 GrS 5/77, BFHE 127, 140, BStBl II 1979, 570; Bannizza in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 169 AO Rz 67, m.w.N.).
c) Die Verfolgung von Steuerordnungswidrigkeiten verjährt gemäß § 384 AO in fünf Jahren. Dabei beginnt die Verfolgungsverjährung erst mit der letztmals zu Unrecht erlangten Kindergeldzahlung. Denn der Erfolg der pflichtwidrigen Unterlassung trat erst mit der letzten Auszahlung ein, d.h. der Auszahlung des Kindergeldes für August 2008. Aus dem das Kindergeldrecht beherrschenden Monatsprinzip (§ 66 Abs. 2 EStG) ist nicht herzuleiten, dass jede monatliche Auszahlung eine beendete Ordnungswidrigkeit darstellt, was zur Folge hätte, dass mit jeder Auszahlung für den jeweiligen Monat auch die Verfolgungsverjährung begänne (Senatsurteile vom 26.6.2014 III R 21/13, BFHE 247, 102, BStBl II 2015, 886; vom 18.12.2014 III R 13/14, BFH/NV 2015, 948, Leitsatz, und Rz 22, 23).
d) Die bei leichtfertiger Steuerverkürzung anzuwendende fünfjährige Festsetzungsfrist (§ 169 Abs. 2 Satz 2 AO) endete gemäß § 171 Abs. 7 AO nicht, bevor die Verfolgung der Steuerordnungswidrigkeit verjährte, d.h. nicht vor Juli 2013. Sie war somit bei Erlass des Aufhebungsbescheids vom 12.11.2009 noch nicht abgelaufen.
4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 2 FGO.
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